W. Humboldt. Schlosser. 697
Hinter schroffen, rauhen Formen verbarg er schamhaft ein zartes, reiches
Gemüth. Erst in reifen Jahren gelangte er durch den Einfluß sanfter,
edler Frauen zum inneren Frieden und führte fortan in Heidelberg viele
Jahre lang ein stilles Gelehrtenleben: die Selbstbeschauung und Selbst—
vollendung der freien Persönlichkeit blieb ihm des Daseins höchster Zweck.
Der starke mystische Zug, der in seiner Seele dicht neben dem philosophi—
schen Erkenntnißdrange lag, fand seine Befriedigung in Dante's Werken.
Mit diesem Dichter lebte er in allen guten Stunden, und weil er wußte,
daß die Thatsachen der Geschichte erst vor dem Richterstuhle des Gewissens
Sinn und Bedeutung erhalten, so meinte er sich berufen, gleich seinem
Dante ein historisches Weltgericht zu halten, über den sittlichen Werth und
Unwerth alles Geschehenen nach dem strengen Gesetze Kantischer Pflichten—
lehre abzuurtheilen. Seine wissenschaftliche Stärke lag in der umfassenden
Kenntniß der Literaturgeschichte; er zuerst in Deutschland versuchte die
Entwicklung der Dichtung und Wissenschaft in ihrem Zusammenhange
mit dem gesammten Schicksal der Völker darzustellen.
Und dieser durchaus unpolitische Gelehrte wurde gleichwohl ein Wort—
führer der öffentlichen Meinung, weil er der erste rein bürgerliche Histo—
riker Deutschlands war. Einem freien Bauernlande entsprossen hatte er
einst an dem kleinen Hofe von Varel das wüste Treiben der Emigranten
mit angesehen, das seinen angeborenen Adelshaß bis zum Abscheu steigerte.
Unter den Rechtssätzen seines Kant stand ihm keiner so fest wie der Grund-
satz der Rechtsgleichheit für alle Theilnehmer am Staatsvertrage. Das
Selbstgefühl des Bürgerthums, das so mächtig anwuchs seit die neue
überwiegend bürgerliche Literatur die Nation beherrschte, fand in Schlosser's
Schriften den lautesten und trotzigsten Ausdruck. Darum galt er für
liberal, obwohl er sich den constitutionellen Ideen nie befreunden konnte;
darum wurde er trotz seiner ausgeprägten niederdeutschen Eigenart den
Süddeutschen fast ebenso lieb wie ihr Rotteck, denn dort im Oberlande
war die bürgerliche Gesinnung zur Zeit noch am stärksten. Schlosser be-
trachtete den Staat grundsätzlich nur von unten her, vom Standpunkte
der Regierten; niemals versuchte er sich in die Lage der Regierenden
hineinzudenken, den Zwang der Umstände, der ihre Entschlüsse bestimmte,
billig zu würdigen. Da er, wie alle Gemüthsmenschen, jede Verletzung
seines sittlichen Gefühls mit leidenschaftlicher Bitterkeit empfand, so zeigte
das sittliche Weltgericht, das er halten wollte, sehr wenig von der Erhaben-
heit der Göttlichen Komödie. Ungeschlacht wie er war, ohne Sinn für
den Adel der Form, gerieth er in ein heftiges Poltern und Schelten, die
Freude an der historischen Größe ging ihm verloren, und den Lesern blieb
der trostlose Eindruck, als ob die vielgestaltige Herrlichkeit der Geschichte
nur ein ödes Einerlei glücklicher Schurkenstreiche wäre. Eben diese un-
gerechte und unpolitische Härte des moralischen Urtheils gewann ihm die
Herzen der Mittelstände; denn die strenge Kantische Pflichtenlehre war,