Hegel's System. 715
ebenso erstaunlich wie einst Hegel's Ansehen war nachher der Undank der
Nation; sie hatte sich an dem Feuertranke dieses Idealismus dermaßen
berauscht, daß sie dann ernüchtert auf lange hinaus einen tiefen Ekel
gegen alle Speculation faßte und mit dem Sturze dieses Systems auch
die Philosophie selber gerichtet und vernichtet wähnte. Der einst ver—
götterte Meister verfiel der Mißachtung; noch heutzutage wird er unter
allen unseren großen Philosophen am wenigsten gelesen und am gröb—
lichsten verkannt.
Mit der gleichen heldenhaften Zuversicht wie vormals der junge Kant
war Hegel in seine Laufbahn eingetreten. Der große Schwabe fühlte in
sich alle die Kräfte, welche die speculative Begabung seines Stammes aus-
machen: tiefen, grüblerischen Forschersinn, glühende Phantasie und eine
vielseitige Empfänglichkeit, der nichts Menschliches fremd blieb. Schon als
junger Mann (1802) erklärte er rund heraus, die Reflexionsphilosophie
von Kant, Fichte, Jacobi hätte sich nur zum Begriffe, nicht zur Idee er-
hoben. Er traute sich's zu dies Höchste zu wagen, und als sein System
sich ausgestaltete, sprach er in der That für lange Zeit das letzte Wort.
Ein höheres Ziel konnte die deutsche Philosophie auf dem seit Kant ein-
geschlagenen Wege nicht mehr erreichen. Das Räthsel des Daseins schien
gelöst, die Einheit von Sein und Denken nachgewiesen, seit Hegel das
Leben der Welt als den unendlichen dialektischen Proceß des sich selber
denkenden absoluten Geistes darstellte. In diesem Systeme war Alles Geist
und Alles Werden. Es war der folgerichtigste Monismus, der je gedacht
worden: die Idee durchläuft zuerst die Reihe der nothwendigen Denkformen,
dann entläßt sie sich in die Natur, setzt sich als ein anderes gegenständ-
liches Leben sich selber gegenüber und kehrt endlich aus dem Abfall von
der Unendlichkeit wieder frei in sich zurück, in das Reich des Geistes.
So ist denn Alles was da war und ist und sein wird von Ewigkeit zu
Ewigkeit nur die göttliche Vernunft in ihrer Selbstentfaltung. In den
mächtigen Rahmen dieses Systems trug Hegel nun — ein anderer Aristo-
teles, wie seine Schüler rühmten — mit ungeheurem Fleiße die Ergeb-
nisse der gesammten Erfahrungswissenschaften seiner Zeit hinein, dergestalt
daß die ganze Welt der Natur und Geschichte ihre Stelle und Stufe
angewiesen erhielt in dem unendlichen Entwicklungsgange des absoluten
Geistes.
In dieser Zeit vermochte eine neue philosophische Erkenntniß deutsche
Gemüther noch mit dem ganzen Zauber einer religiösen Offenbarung zu
ergreifen; selbst grobe Widersprüche zwischen dem Systeme und der Er-
fahrung störten den Gläubigen nicht, weil er wußte, daß die Philosophie
unmöglich warten kann bis zu dem Tage, der niemals tagt, bis zur
Vollendung der empirischen Wissenschaften. Dies Hegel'sche System aber
besaß vor allen anderen die Kraft, seine Schüler durch das Bewußtsein
einer untrüglichen Gewißheit zu beseligen; denn war das Leben der Welt