94 IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.
beantragten England und Frankreich auf der Londoner Konferenz ge—
meinsame Gewaltmaßregeln gegen Holland. Man stritt hinüber und
herüber, die Konferenz wußte sich aus ihrer Ratlosigkeit nur dadurch zu
retten, daß sie gar nicht mehr zusammentrat. Der europäische Areopag
löste sich auf und überließ es den Westmächten, ihre heilige Nichtein—
mischungslehre zum zweiten Male gröblich zu verletzen. Sie beschlossen
am 22. Oktober, daß England die holländischen Schiffe in Beschlag nehmen,
Frankreich die Zitadelle von Antwerpen für Belgien erobern solle.
Diesmal verfuhr der Hof des Palais Royal ohne Hintergedanken,
anders, als im vorigen Jahre; denn König Leopold hatte mittlerweile die
so lange umworbene Tochter Ludwig Philippsgeehelicht, und seitder Koburger
mit zur Familie gehörte, stand der alte Plan der Teilung Belgiens
nicht mehr im Einklang mit den kaufmännischen Geschäftsregeln des
Hauses Orleans. Im Mai war Casimir Perier gestorben, auch er
ein Opfer der Cholera. Im Oktober übernahm der Herzog von Broglie
das Auswärtige Amt, der Führer der Doktrinäre, hochgebildet, steif,
tugendstolz, unausstehlich wie seine gesamte Partei, aber unbestreitbar
ein Mann des Friedens. Er versprach den großen Mächten sofort, daß
die französischen Truppen alsbald nach der Einnahme der Zitadelle Bel-
gien wieder verlassen würden, und fragte sogar an, ob nicht Preußen
unterdessen das östliche Belgien besetzen wolle.)) König Friedrich Wilhelm
aber wollte an der Vergewaltigung seines Schwagers auch nicht mittelbar
teilnehmen; er verstärkte nur die Truppen am Rhein durch das west-
fälische Armeekorps und zog sie dicht an der Grenze, bei Aachen zusammen,
um gegen einen Wortbruch Frankreichs sofort einschreiten zu können.
In Paris mußte Werther „den stärksten moralischen Widerstand leisten“,
wie Ancillon salbungsvoll sagte?"*); auch Osterreich und Rußland zeigten
dem französischen Hofe die üble Laune, die im Leben der einzelnen wie
in der Politik immer den Schmollenden selber schädigt. Gleichwohl wagten
die Ostmächte nicht einmal eine öffentliche Verwahrung; schon im Früh-
jahr waren sie dahin übereingekommen, daß ein solcher Schritt entweder
ihr Ansehen bloßstellen oder die Gefahr des allgemeinen Kriegs wieder
heraufbeschwören müsse. **) Der Bürgerkönig wußte dies nur zu wohl
und ließ den kleinen deutschen Höfen zuversichtlich ankündigen: „Obwohl
wir die Zustimmung der Nordmächte zu unseren Maßregeln nicht erlangt
haben, so sind wir nichtsdestoweniger sicher, keinem Widerstande ihrerseits
zu begegnen.“) Kein Wunder wahrhaftig, daß der Oranier über den
abermaligen Einmischungsversuch der gleißnerischen Nichteinmischungs-
*) Witzleben an Maltzahn, 16. Okt. Weisungen an Maltzahn, 20. 30. Okt.
6. Nov. 1832.
**) Ancillon an Maltzahn 20. Okt. 1832.
*) Preußisches Memorandum für Graf Orlow, 13. Febr. 1832.
+) Broglie, Zirkulardepesche über den Vertrag v. 22. Okt. 1832.