106 IV. 2. Die konstitutionelle Bewegung in Norddeutschland.
war auch gern bereit, die Statthalterschaft im Namen seines Bruders förm—
lich anzutreten, da dessen Vollmacht mittlerweile aus London eingetroffen
war. Aber die Minister, die Landstände, die Stadträte und viele andere
ungebetene Ratgeber stellten ihm ernst, fast drohend vor, nimmermehr
dürfe der Name des Vertriebenen erwähnt werden, sonst breche der Auf-
ruhr von neuem los. Am Abend strömte wieder ein Volkshaufen auf
dem Burgplatze zusammen; ein Redner kletterte auf das alte Löwendenk-
mal hinauf und ließ die Versammlung ein Pereat auf Karl, ein Hoch
auf den neuen Herzog Wilhelm ausbringen.
Eingeschüchtert durch diese Kundgebungen des Volkswillens, verkündigte
Wilhelm am 28. September, er habe sich „veranlaßt gefunden, die Re-
gierung bis auf weiteres zu übernehmen“; von der Vollmacht seines
Bruders sagte er in seinem Patent kein Wort. Aus Furcht und jugend-
licher Unerfahrenheit, keineswegs aus Ehrgeiz, tat er also den ersten
rechtswidrigen Schritt. Dem Könige von Preußen wagte er sein Unrecht
nicht einzugestehen, sondern zeigte ihm nur an, daß er „in Übereinstim-
mung mit seinem Bruder“ die Regierung vorläufig übernommen habe.
Seinem englischen Oheim gegenüber ging er freier mit der Sprache
heraus: er habe, so schrieb er ihm, die Vollmacht seines Bruders ver-
öffentlichen wollen und viele Vertrauensmänner darüber befragt; aber
„einmütig ward es ausgesprochen, daß eine solche Verkündigung den
Zweck meiner provisorischen Regierungsübernahme gänzlich vereiteln,
ja von neuem eine allgemeine Gärung veranlassen und die gefähr-
lichsten Folgen für das Wohl des Landes auch in Rücksicht meiner Person
haben würde.“ 7) Die Entschuldigung war so schwächlich wie sein ganzes
Verfahren; denn fand er den Mut, bei seinem ersten Entschlusse zu
beharren, dann konnte er als unbestreitbar rechtmäßiger Statthalter
mit Sicherheit auf die Waffenhilfe Preußens, Hannovers, ja selbst des
Deutschen Bundes zählen, und gegen preußische Bataillone hätten die
Heerscharen des Bürgerwehrmajors Löbbecke ihren „freien Gehorsam“
schwerlich betätigt. Den Landständen erwiderte Herzog Wilhelm: er werde
versuchen, seinen Bruder zur Abdankung zu bewegen; mißlinge dies, so
wolle er sie nicht hindern, sich an den wohlwollenden König von England-
Hannover zu wenden. Der Wink ward sofort verstanden. Noch am
selben Tage riefen die Stände die Vermittlung Wilhelms IV. an: wenn
nur Karl erst die Krone niedergelegt habe, dann sei sein Bruder recht-
mäßiger Landesherr.)
In Berlin wie in London mußte man sich sagen, daß Herzog Wilhelms
eigenmächtige Tat nicht mehr zurückgenommen werden konnte. Ohne
*) H. Wilhelm an K. Friedrich Wilhelm, 28. September, an K. Wilhelm IV.,
29. Sept. 1830.
**) Herzog Wilhelm, Schreiben an die Landschaft, 28. Sept. Eingabe der Land-
schaft an König Wilhelm IV., 28. Sept. 1830.