Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Vierter Teil. Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. (27)

Herzog Wilhelms Regentschaft. 107 
ihn ließ sich die Beruhigung des Ländchens nicht erreichen, und auch die 
trotzige Haltung der Braunschweiger entsprang keineswegs allein dem über- 
spannten Selbstgefühle des revolutionären Philistertums: eine wider- 
rufliche Vollmacht bot, bei Karls Charakter, in der Tat keine Gewähr 
für dauernden Frieden. Darum sahen beide Höfe über den begangenen 
Formfehler schweigend hinweg und bemühten sich, während der nächsten 
Wochen wetteifernd, den Flüchtling zu freiwilligem Verzicht zu bewegen. 
Der König von Preußen schrieb ihm selbst, noch nachdrücklicher Fürst 
Wittgenstein.) König Wilhelm IV. aber unterhandelte, erst durch Wel- 
lington und Aberdeen, nachher persönlich mit seinem Neffen. Er verfuhr 
schonend und streng ehrenhaft; selbst Graf Münster, des Herzogs alter 
Feind, bekundete eine unerwartete Mäßigung. Man ließ dem Herzog die 
Wahl, ob er gänzlich abdanken, oder seinem Bruder mit unbeschränkter 
und unwiderruflicher Vollmacht die lebenslängliche Statthalterschaft über- 
tragen wolle. Auf jeden Fall — darüber waren die beiden Könige einig — 
sollte Karls Nachkommen ihr Erbrecht vorbehalten bleiben.) 
Endlich begann der Herzog einzulenken und rückte mit seinen Be- 
dingungen heraus. Er war bereit, den Bruder zum Generalgouverneur 
auf Lebenszeit zu ernennen, verlangte aber für sich, außer dem Hof- 
staate und den Ehrenrechten eines Souveräns, eine jährliche Rente von 
300 000 Talern, ohne Abzug, lediglich für seine persönlichen Ausgaben — 
und dies von einem Ländchen, dessen gesamte Staatseinnahmen wenig 
mehr als eine Million betrugen. Außerdem sollte der Landtag das Recht 
erhalten, den Herzog jederzeit zur Selbstregierung zurückzurufen. Da nach 
englischen Anstandsbegriffen solche kaufmännische Künste nicht anstößig sind, 
so zeigten sich Wellington und Aberdeen geneigt, Karls Vorschläge im 
wesentlichen anzunehmen; was kümmerte diese Torys die Finanznot 
eines deutschen Kleinstaats? Münster aber fand die Geldsumme viel zu 
hoch, den Vorbehalt einer Zurückberufung ganz unannehmbar.“) Noch 
peinlicher war der Berliner Hof überrascht. Tief empört schrieb Bernstorff 
nach Wien: daß Herzog Karl sich sträubt, ist nicht zu verwundern; „daß 
er aber einen so hohen Preis in Gelde dafür fordert, einen Preis, 
welchen das Land kaum erschwingen kann, gibt einen abermaligen Be- 
weis von der Härte und dem grenzenlosen Egoismus seines Charakters.“ ) 
König Friedrich Wilhelm war indessen längst zu der Erkenntnis ge- 
langt, daß die zaudernden englischen Welfen eines Spornes bedurften. 
  
*) König Friedrich Wilhelm an Herzog Karl, 16. Oktober. Wittgenstein an Herzog 
Karl, 20. Okt. 1830. 
**) Wellington an Münster, 4. Okt. Münster an Herzog Wilhelm von Braun- 
schweig, 5. Okt. König Wilhelm IV. an Herzog Wilhelm, 8. 13. Okt. 1830. 
***) Bülows Berichte, 15.22. Okt. Esterhazys Bericht, London 19. Okt. Münfter 
an Stralenheim, 2. Nov. König Wilhelm IV. an Herzog Wilhelm, 4. Nov. 1830. 
0 Bernstorff an Maltzahn, 9. Nov. 1830.
	        
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