108 IV. 2. Die konstitutionelle Bewegung in Norddeutschland.
Er hatte den jungen Herzog zu der Reise nach Braunschweig bewogen
und sich dann zurückgehalten, um dem Deutschen Bunde und dem wel—
fischen Hause nicht vorzugreifen. Aber die von Preußen früher beabsich—
tigte Absendung eines Bundeskommissars war durch die Ereignisse längst
überholt. Herzog Wilhelms eigenmächtige Statthalterschaft wurde von
den Revolutionären allerorten als ein Regiment der Volkssouveränität
gepriesen, die unsicheren Zustände des Landes bedrohten die ganze Nach—
barschaft. Es ward hohe Zeit, daß der Bund die Regentschaft anerkannte
und ihr also einen festen Rechtsboden verschaffte. Der König ließ daher
die preußische Ansicht in einer ausführlichen Denkschrift des Auswärtigen
Amtes zusammenfassen (29. Okt.): Die Unruhen in Braunschweig seien
nicht schlechthin anarchisch, sondern lediglich gegen den Herzog gerichtet
gewesen, der Haß gegen ihn aber so glühend, daß die Deutschen bei seiner
Rückkehr vielleicht selbst „das schauderhafte Beispiel“ des Fürstenmordes
erleben könnten. Verstehe er sich nicht zu einem Verzichte, so bleibe, da
die Reichsgerichte nicht mehr bestünden, nur noch das eine Mittel übrig,
daß die Agnaten des welfischen Hauses mit Genehmigung des Bundes—
tags einen endgültigen Rechtszustand herstellten. Noch deutlicher schrieb
Bernstorff einige Wochen darauf nach London: scheitern die Verhandlungen
mit Herzog Karl, dann dürfen sie nicht von neuem aufgenommen werden,
sondern die Agnaten müssen den Vertriebenen für regierungsunfähig
erklären und diesen Beschluß durch den Bundestag gutheißen lassen.)
Die Denkschrift wurde nach London, Hannover und Frankfurt, erst später
nach Wien gesendet. Eichhorn selbst hatte sie sorgfältig umgearbeitet und
alles klug darauf berechnet, die hannöversche Regierung vorwärts zu
drängen, ohne doch den immer wachen Argwohn des Grafen Münster
gegen Preußens hegemonische Gelüste aufzureizen. Der Streich gelang.
Münster eignete sich die preußischen Ansichten vollständig an und wieder—
holte sie in einer Denkschrift für den hannöverschen Bundesgesandten,
welche das gemeinsame Vorgehen der beiden Kronen in Frankfurt vor-
bereiten sollte. *) Herzog Wilhelm aber sprach, sichtlich erleichtert, dem
Berliner Hofe seinen Dank aus; er erbat und erhielt die Erlaubnis, sich
auf die preußische Denkschrift zu berufen, falls er in die Lage käme, sein
Verbleiben in Braunschweig vor den deutschen Fürsten zu rechtfertigen.)
Zunächst mußte der Bundestag die so schmählich verschleppte Be-
schwerde der Landstände gegen Herzog Karl endlich erledigen. Bis zum
letzten Augenblicke versuchte Graf Münch unter allerhand Vorwänden diese
Entscheidung zu hintertreiben; grenzenlos war die Nachsicht des Hauses
*) Denkschrift des Auswärtigen Amtes, die gegenwärtige Lage des Herzogtums
Braunschweig betr., 29. Okt. Bernstorff, Weisung an Bülow, 17. Nov. 1830.
**) Bülows Bericht, 20. Nov. Münster an Herzog Wilhelm, 16. Nov. 1830.
***) Herzog Wilhelm an Wittgenstein, 16. November. Bernstorff an Wittgenstein,
21. Nov. 1830.