Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Vierter Teil. Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. (27)

Die kurhessische Verfassung. 133 
so klar die nationale Eigenart des älteren deutschen Repräsentativsystems, 
die seltsame Verquickung der noch immer fortwirkenden altständischen 
Rechtsüberlieferungen mit der Doktrin des modernen Naturrechts. Mit 
erschöpfendem Fleiße trugen Jordan und seine Freunde aus den wohl— 
gefüllten Zeughäusern der altständischen Verfassung und des neuen allge— 
meinen Staatsrechts alle die Netze herbei, welche den Fürsten wie ein 
Wild umstellen sollten, so daß er sich nicht mehr rühren konnte. Eggena 
so gut wie die Landstände betrachteten das neue Grundgesetz als einen 
Vertrag zwischen Fürst und Volk: in diesem Urteile stimmte die altstän— 
dische Rechtsansicht mit der Lehre des Contrat social überein. 
Darum wurde dem Thronfolger erst nach geleistetem Verfassungseide 
gehuldigt, und jede Verbesserung des vereinbarten Grundvertrages aufs 
äußerste erschwert. Nur wenn die Stände einmütig oder auf zwei 
Landtagen nacheinander mit Dreiviertelmehrheit zustimmten, konnte 
die Verfassung erläutert oder geändert werden; erhoben sich Zweifel über 
den Sinn ihrer Vorschriften, so entschied ein Kompromißgericht, zu dem 
Fürst und Landtag je drei Mitglieder wählten. Den Landtag bildeten die 
Abgeordneten der drei alten Stände; sie waren aber fortan allesamt 
Vertreter des ganzen Volkes und sollten in einer Kammer nach Köpfen 
abstimmen, weil man einsah, daß die Ritterschaft des Landes zu schwach 
und zu arm war, um in einem Oberhause eine angesehene Stellung zu 
behaupten. Die Stände erhielten außer dem Rechte der freien Steuer- 
bewilligung und der Zustimmung zu allen Gesetzen auch die Befugnis 
der Initiative, die noch keinem deutschen Landtage unbeschränkt zustand. 
Sobald die Mandate der Stände nach drei Jahren abliefen, erfolgte sofort 
die Neuwahl auch ohne die Aufforderung der Regierung. Wenn der 
Landtag nicht versammelt war, sollte nach altständischem Brauche ein er- 
wählter Ausschuß von drei bis fünf Mitgliedern mit einem lebensläng- 
lichen Syndikus die Rechte der Stände vertreten und nötigenfalls auch 
andere Abgeordnete zu Rate ziehen. 
Den Staatsbürgern wurden einige Menschenrechte der persönlichen 
Freiheit gewährt, auch die Ablösung der Grundlasten sowie andere wirt- 
schaftliche Erleichterungen versprochen. Zur Sicherung dieser ständischen 
und bürgerlichen Rechte waren Bollwerke aufgerichtet, die in Deutschland 
nicht ihresgleichen fanden. Jeder männliche Hesse sollte in seinem acht- 
zehnten Lebensjahre das Grundgesetz beschwören; auch das Heer und die 
Bürgergarde wurden mithin auf die Verfassung vereidigt, die Offiziere 
den übrigen Staatsdienern rechtlich gleichgestellt, obgleich dem Kurfürsten 
der Name des „obersten Militärchefs“ blieb. Bei jeder Ausschreibung 
einer Steuer mußte die ständische Zustimmung ausdrücklich angegeben 
werden; wo nicht, so war niemand berechtigt, die Abgabe zu erheben, 
niemand verpflichtet, sie zu zahlen; nur sechs Monate lang nach einer 
Auflösung des Landtags durfte die Regierung die früher bewilligten
	        
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