Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Vierter Teil. Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. (27)

Der Umschwung in Deutschland. 7 
überlassen; jetzt scharten sie sich fester zusammen und bekämpften die 
Lehren der Revolution in unabhängigen Zeitschriften. Bald darauf 
trat die ultramontane Partei, eine geschlossene, weithin über Deutschland 
verzweigte Macht, mit einem Schlage auf den Kampfplatz. In der 
liberalen Welt wogten die Wünsche und Gedanken noch wirr durchein— 
ander, aber einzelne Sätze der Parteidoktrin wurden allmählich zum 
Gemeingut aller, und selbst dem noch völlig unklaren Einheitsdrange 
der Nation zeigte sich in weiter Ferne endlich ein erkennbares Ziel, seit 
süddeutsche Liberale zuerst von einem deutschen Parlamente und von 
der preußischen Hegemonie zu reden wagten. 
In so krankhaft erregter Zeit mußte die Dichtung verwildern. Der 
gespreizte, grelle und dennoch kraftlose Feuilletonstil verdrängte den Adel der 
Form, die rohe Tendenz den künstlerischen Gedanken, alles was deutschen 
Herzen heilig, wurde von den literarischen Helden des Tages beschmutzt 
und verhöhnt. Doch bis zu den Höhen der deutschen Bildung schlugen 
die schlammigen Wellen dieses Radikalismus nicht empor. Eben jetzt 
erschien Goethes letzte und tiefsinnigste Dichtung; unbeirrt durch das Ge- 
schrei des Marktes schritten Böckh und Ritter, die Brüderpaare Grimm 
und Humboldt ihre Bahn; in Rankes Werken bewährte die Kunst der 
Geschichtschreibung ihre Meisterschaft; Dahlmann vertiefte die liberale 
Parteidoktrin und befruchtete sie mit den Ideen der historischen Rechts- 
schule; die Theologie wurde durch einen leidenschaftlichen Parteikampf 
aufgerüttelt und gezwungen, den historischen Unterbau ihrer Lehren einer 
schonungslosen Kritik zu unterwerfen; auch in den exakten Wissenschaften 
traten junge Talente auf, den Wettlauf mit dem Auslande zu wagen. 
Also blieben auch in diesem Jahrzehnt, das selber friedlos so viel Un- 
frieden säte, die schöpferischen Kräfte unserer Geschichte noch immer 
wirksam. — 
Das Nahen einer großen Umwälzung war von einsichtigen Be- 
obachtern der französischen Zustände längst vorausgesehen. Sobald König 
Karl X. das gemäßigte Ministerium Martignac hatte berufen müssen, 
erlangte der Liberalismus wieder die Herrschaft über die öffentliche 
Meinung, und er griff um sich mit unwiderstehlicher Gewalt; denn eine 
gänzlich demokratisierte Gesellschaft gleicht einer Herde, die beiden leben- 
digsten Kräfte des modernen französischen Charakters, der Nationalstolz und 
die sittliche Feigheit, führen jeder augenblicklich obenauf kommenden Partei 
täglich neue Anhänger zu. Damals schon schrieb der preußische Gesandte 
von Werther: „Jetzt die ultramontane Partei zur Macht berufen, das 
heißt Frankreich einen unverzeihlichen und ungeheueren Schritt zur Revo- 
lution hin machen lassen; denn diese Partei würde, verabscheut von der 
Nation und unfähig, sich am Ruder zu halten, bald gezwungen sein, ent- 
weder einem ultraliberalen Ministerium zu weichen oder dem Könige den 
Umsturz der gegenwärtigen Verfassung anzuraten. Eine solche Tat
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.