Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Vierter Teil. Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. (27)

162 IV. 2. Die konstitutionelle Bewegung in Norddeutschland. 
guten altenglischen Ansicht, und die Abgeordneten der zweiten Kammer 
gaben sich endlich zufrieden, als ihnen, nicht durch die Verfassung selbst, 
sondern nur durch ein vorläufiges Reglement Diäten zugestanden wurden. 
Schwerer gelang die Verständigung über die Zusammensetzung der 
beiden Kammern. Die Krone wollte nur die angesehensten Grundherren, 
die Majoratsbesitzer in die erste Kammer berufen, die übrige Ritterschaft, 
wie in Sachsen, dem unteren Hause zuweisen; erhielt sie dann noch, wie 
Dahlmann vorschlug, das Recht, ein Drittel der Mitglieder der ersten 
Kammer nach freiem Ermessen zu ernennen, so ließ sich hoffen, daß die 
beiden Häuser in leidlicher Eintracht zusammenarbeiten würden. Wall- 
moden begrüßte den Vorschlag mit Freuden; er wünschte selber in die 
zweite Kammer hinabzusteigen, um dort als Bauernführer die Herrschsucht 
seiner eigenen Standesgenossen zu bekämpfen. Schele aber und die große 
Mehrheit des Adels fanden es beleidigend, daß Mitglieder der Ritter- 
schaft mit den Bürgern und Bauern gemeinsam in einem Hause tagen 
sollten. Und leider arbeitete Stüve dem Junkerhochmut in die Hände; 
er geriet auf den überklugen Einfall, man müsse den gesamten Adel 
in einer Kammer vereinigen, um ihn also zu schwächen. Das Ergebnis 
der verworrenen Beratung war, daß der unversöhnliche Gegensatz der 
beiden Kammern, der so lange schon diesen Landtag gelähmt hatte, auch 
fernerhin fortbestand. Die erste Kammer blieb wie bisher ausschließlich 
eine Adelsvertretung; den einzigen bürgerlichen Ritter, der einmal in 
diesen Saal eindrang, nötigte sie binnen kurzem zum Austritt; der 
zweiten Kammer aber, die fortan aus zehn Prälaten, 37 städtischen und 
38 bäuerlichen Abgeordneten bestand, trat sie mit zunehmender Schroff- 
heit entgegen. 
Die Vorrechte der Ritterschaft wagte man nur behutsam anzutasten; 
das Staatsgrundgesetz versprach nur für die Zukunft die Beschränkung 
des privilegierten Gerichtsstandes, die Anschließung der Rittergüter an die 
Landgemeinden. Sein Lieblingswerk aber, die von langer Hand her 
vorbereitete Ablösung der bäuerlichen Dienste, Zehnten und Meiergefälle, 
wußte Stüve jetzt doch noch durchzusetzen, damit der uralte niedersäch- 
sische Grundsatz „frei Mann, frei Gut“ endlich zur Wahrheit würde. 
Der Adel sträubte sich aufs äußerste, und jahrelang mußte Stüve noch 
mit dem Führer der Junkerpartei wegen der Ausführung der neuen 
Ablösungsordnung einen persönlichen Kampf ausfechten. Da sein kleines 
Landgut bei Osnabrück nahe der Schelenburg lag, so kamen Scheles 
Gutsuntertanen beständig herüber, um sich bei dem Bauernfreunde Rat 
zu holen, und der konservative Reformer geriet dergestalt in den Ruf 
eines demagogischen Verschwörers. Als sich die Aufregung legte, da mußten 
freilich die Grundherren selber zugeben, daß sie durch die Ablösung nur 
gewonnen hatten; der Bauernstand aber kam jetzt endlich in die Lage, sein 
neugewonnenes Wahlrecht selbständig zu gebrauchen. Auf diese praktische
	        
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