Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Vierter Teil. Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. (27)

Schele. Stüve. Dahlmann. 163 
Freiheit legte Stüve allein Wert; die Dogmen des konstitutionellen Ver— 
nunftrechts ließen die Mehrheit des Landtags kalt. Die Stände selber ge— 
standen unbefangen, dast man die häufige Wiederkehr großer Staatsprozesse 
nicht erleichtern dürfe; sie verlangten darum das Recht der Ministeranklage 
nur für den Fall absichtlicher Verfassungsverletzung und behielten sich für 
leichtere Streitigkeiten lediglich eine Beschwerde an den König vor. 
So kam das Staatsgrundgesetz zustande, unzweifelhaft die be— 
scheidenste unter den neuen norddeutschen Verfassungen; bei allen Män— 
geln doch ein achtungswertes Werk erfahrener Einsicht und behutsamer 
Mäßigung. Dahlmann meinte zufrieden, hier sei der Weg betreten, der 
für Deutschland frommen könne. Eine Zeitlang gewann es den An- 
schein, als sollte unter diesen besonnenen niederdeutschen Reformern eine 
neue Schule des gemäßigten Liberalismus sich bilden, wie sie der Nation 
gerade not tat, ehrlich konstitutionell und doch dem historischen Rechte 
nicht feindlich gesinnt, eine Schule, die nach Steins Vorbild das Künf- 
tige aus dem Vergangenen zu entwickeln suchte. Unterstützt von Rose, 
Stüve, Dahlmann und dem wackeren Pädagogen Kohlrausch, ließ Steins 
Vertrauter Pertz, der gelehrte Herausgeber der Monumenta Germa- 
niae, die Hannoversche Zeitung erscheinen, die erste namhafte politische 
Zeitschrift des kleinen Königreichs, ein streng nationales Blatt, das den 
abstrakten Theorien des modischen Liberalismus ebenso nachdrücklich ent- 
gegentrat wie seiner polnisch-französischen Schwärmerei und darum von 
der süddeutschen Presse als ein Organ der pfäffischen Reaktion gebrand- 
markt wurde. Sein Wahlspruch lautete: „Treue ist der Grundzug des 
deutschen Charakters, und Treue ist Freiheit.“ Nach einem kurzen viel- 
verheißenden Anlaufe verfiel die Zeitung leider bald der Ermattung, 
welche das ganze Land heimsuchte; unter den Männern des praktischen 
Lebens hatte sie nie viele Mitarbeiter gefunden, und die politisierenden 
Gelehrten, die selten lange bei der Stange aushalten, zogen sich nach 
und nach zurück. 
Über der neuen Verfassung schwebte kein glücklicher Stern. Nachdem 
die Vereinbarung mühsam gelungen war, blieb man noch ein halbes Jahr 
hindurch in peinlicher Ungewißheit und erfuhr nur durch Gerüchte, daß 
Schele und der österreichische Gesandte in London alles aufboten, um das 
Schiff noch dicht vor dem Hafen stranden zu lassen. Am 26. Sept. 1833 
unterzeichnete der König endlich das Staatsgrundgesetz, nachdem er etwa 
vierzehn unwesentliche Paragraphen des vereinbarten Entwurfs einseitig 
abaeändert hatte. Der neue Landtag beeilte sich zwar auf Stüves An- 
trag die Anderungen nachträglich gutzuheißen; immer blieb es ein ver- 
hängnisvoller Fehler, daß dieser Staat, der seit dem Kriege aus einem 
zweifelhaften Rechtszustande in den andern taumelte, nun schon zum 
dritten Male eine Verfassung erhielt, deren Gültigkeit sich mindestens mit 
Scheingründen anfechten ließ. 
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