Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Vierter Teil. Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. (27)

164 IV. 2. Die konstitutionelle Bewegung in Norddeutschland. 
Der Abschluß des Verfassungswerkes wurde hier nicht wie in den 
Nachbarländern mit lauter Freude begrüßt. Den eifrigen Liberalen ge— 
nügte diese maßvolle Reform mit nichten, die Masse des Volkes aber war 
aus der Aufregung des Revolutionsjahres längst wieder in die alte Gleich- 
gültigkeit zurückgefallen. Kurhessen und Sachsen traten bald nach ihrer 
politischen Neugestaltung dem Zollvereine bei, und die öffentliche Meinung 
wähnte in begreiflicher Selbsttäuschung, daß man das kräftig aufblühende 
wirtschaftliche Leben nicht der Freiheit des deutschen Marktes, sondern 
der Verfassung verdanke. In Hannover dagegen wurden die handelspoli- 
tischen Folgerungen, die sich aus der Kassenvereinigung und der Steuer- 
reform unabweisbar ergaben, nicht gezogen, das Land verharrte bei seiner 
selbstmörderischen englischen Zollpolitik, an dem schläfrigen Gange des Han- 
dels und Wandels änderte sich nichts. So bemerkte das Volk wenig von 
dem Segen der neuen Ordnung. Nur die Bürger von Hildesheim holten 
ihren volksbeliebten Abgeordneten Lüntzel im Triumphzuge ein, und Stüve 
mußte — ganz wie sein verabscheuter Gegenfüßler Rotteck — in seiner 
Vaterstadt den silbernen Ehrenbecher als liberalen Tugendpreis dankend 
entgegennehmen. Das übrige Land verhielt sich lau. Der kluge Geh. Rat 
Hoppenstedt und manche andere einsichtige Beamte wollten sich von Haus 
aus zu dem Staatsgrundgesetze kein Herz fassen, weil sie der Zukunft 
mißtrauten. Sie wußten, daß der Adel seine Widerspenstigkeit noch keines- 
wegs aufgegeben hatte, und er herrschte noch immer in den sieben Pro- 
vinziallandtagen, die mit verminderten Befugnissen auch fernerhin fort- 
bestehen sollten. Schon als die Verfassung beraten wurde, hatten mehrere 
dieser Landtage ein Recht der Mitwirkung beansprucht; als sie beendet 
war, verwahrte der Ausschuß der calenberg-grubenhagenschen Stände in 
aller Stille seine vorgeblichen Rechte. Wie nun, wenn diese Adelsoppo- 
sition bei dem voraussichtlich nahen Thronwechsel den Monarchen selbst 
für sich gewann? Über den Thronfolger, den Herzog von Cumberland, 
liefen bedenkliche Gerüchte um. Man erfuhr, daß er mit Schele in Ver- 
bindung stehe und die neue Ordnung mißbillige. Doch nur wenige Ein- 
geweihte wußten, welch ein unwürdiges Spiel insgeheim im Welfenhause 
getrieben wurde. 
Ernst August von Cumberland blickte auf die deutschen Dinge mit 
der Hoffart des starren Hochtorys hernieder; er hielt es nie der Mühe 
wert, das Staatsrecht des Landes, das er dereinst beherrschen sollte, 
kennen zu lernen, und begnügte sich mit der unbestimmten Vorstellung, 
daß den Agnaten in Hannover eine Art Mitregierungsrecht, mindestens 
für außerordentliche Fälle, zustehe. Von diesem angemaßten Rechte machte 
er auch mehrmals Gebrauch, doch niemals offen, niemals ohne jene Winkel- 
züge, welche seinem aus Schroffheit und Heimtücke seltsam gemischten Cha- 
rakter geläufig waren. Bei Lord Eldon und den anderen Freunden von 
der strengen Torypartei hatte er als höchste politische Weisheit gelernt,
	        
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