164 IV. 2. Die konstitutionelle Bewegung in Norddeutschland.
Der Abschluß des Verfassungswerkes wurde hier nicht wie in den
Nachbarländern mit lauter Freude begrüßt. Den eifrigen Liberalen ge—
nügte diese maßvolle Reform mit nichten, die Masse des Volkes aber war
aus der Aufregung des Revolutionsjahres längst wieder in die alte Gleich-
gültigkeit zurückgefallen. Kurhessen und Sachsen traten bald nach ihrer
politischen Neugestaltung dem Zollvereine bei, und die öffentliche Meinung
wähnte in begreiflicher Selbsttäuschung, daß man das kräftig aufblühende
wirtschaftliche Leben nicht der Freiheit des deutschen Marktes, sondern
der Verfassung verdanke. In Hannover dagegen wurden die handelspoli-
tischen Folgerungen, die sich aus der Kassenvereinigung und der Steuer-
reform unabweisbar ergaben, nicht gezogen, das Land verharrte bei seiner
selbstmörderischen englischen Zollpolitik, an dem schläfrigen Gange des Han-
dels und Wandels änderte sich nichts. So bemerkte das Volk wenig von
dem Segen der neuen Ordnung. Nur die Bürger von Hildesheim holten
ihren volksbeliebten Abgeordneten Lüntzel im Triumphzuge ein, und Stüve
mußte — ganz wie sein verabscheuter Gegenfüßler Rotteck — in seiner
Vaterstadt den silbernen Ehrenbecher als liberalen Tugendpreis dankend
entgegennehmen. Das übrige Land verhielt sich lau. Der kluge Geh. Rat
Hoppenstedt und manche andere einsichtige Beamte wollten sich von Haus
aus zu dem Staatsgrundgesetze kein Herz fassen, weil sie der Zukunft
mißtrauten. Sie wußten, daß der Adel seine Widerspenstigkeit noch keines-
wegs aufgegeben hatte, und er herrschte noch immer in den sieben Pro-
vinziallandtagen, die mit verminderten Befugnissen auch fernerhin fort-
bestehen sollten. Schon als die Verfassung beraten wurde, hatten mehrere
dieser Landtage ein Recht der Mitwirkung beansprucht; als sie beendet
war, verwahrte der Ausschuß der calenberg-grubenhagenschen Stände in
aller Stille seine vorgeblichen Rechte. Wie nun, wenn diese Adelsoppo-
sition bei dem voraussichtlich nahen Thronwechsel den Monarchen selbst
für sich gewann? Über den Thronfolger, den Herzog von Cumberland,
liefen bedenkliche Gerüchte um. Man erfuhr, daß er mit Schele in Ver-
bindung stehe und die neue Ordnung mißbillige. Doch nur wenige Ein-
geweihte wußten, welch ein unwürdiges Spiel insgeheim im Welfenhause
getrieben wurde.
Ernst August von Cumberland blickte auf die deutschen Dinge mit
der Hoffart des starren Hochtorys hernieder; er hielt es nie der Mühe
wert, das Staatsrecht des Landes, das er dereinst beherrschen sollte,
kennen zu lernen, und begnügte sich mit der unbestimmten Vorstellung,
daß den Agnaten in Hannover eine Art Mitregierungsrecht, mindestens
für außerordentliche Fälle, zustehe. Von diesem angemaßten Rechte machte
er auch mehrmals Gebrauch, doch niemals offen, niemals ohne jene Winkel-
züge, welche seinem aus Schroffheit und Heimtücke seltsam gemischten Cha-
rakter geläufig waren. Bei Lord Eldon und den anderen Freunden von
der strengen Torypartei hatte er als höchste politische Weisheit gelernt,