Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Vierter Teil. Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. (27)

170 IV. 2. Die konstitutionelle Bewegung in Norddeutschland. 
Magazins schöpften die heranwachsenden jungen Beamten allesamt ihre 
Kenntnis der halbverschollenen ruhmreichen Landesgeschichte. Als die Juli- 
Revolution hereinbrach, regte sich in weiten Kreisen das Verlangen nach 
einer Verfassung, welche das historische Recht neu beleben und fortbilden 
sollte. Die Regierung in Kopenhagen benahm sich überaus furchtsam, weil 
ihr das Gewissen schlug. Sie wußte wohl, wie schwer an den Rechten 
der deutschen Nordmark gesündigt worden war, und warum die Dänen 
ihren sechsten Frederik als den ersten dänischen König feierten; sie besorgte 
im Ernste, daß ein schleswig-holsteinischer de Potter erstehen und der bel- 
gische Aufruhr an der Eider sein Gegenbild finden könnte. So bedrohlich 
war die Lage mit nichten. An einen Abfall dachte in den Herzogtümern 
noch niemand. Selbst das Verlangen nach gesetzlicher Reform ward 
niedergehalten durch die tiefe Ehrfurcht vor „dem edelsten, besten, gütigsten 
König, dem innig und heiß geliebten Landesvater“, der sich doch die Mühe 
gegeben hatte, so viele Jahre zu leben; und schwerlich wäre den beschei- 
denen Wünschen der gebildeten Klassen irgendeine Frucht entsprossen, 
wenn nicht ein tapferer Mann die Angst der Krone benutzt hätte, um zur 
rechien Zeit mit lauter Stimme zu fordern. 
Jens Uwe Lornsen hatte nach einem stürmischen Studentenleben die 
letzten Jahre hindurch auf der schleswig-holsteinischen Kanzlei in Kopenhagen 
gearbeitet und dort — so ganz entfremdet war diese Behörde ihrer Heimat 
— weder von der Geschichte noch von dem alten Staatsrechte Schleswig- 
Holsteins irgend etwas erfahren. Aber die glühende Begeisterung für sein 
deutsches Vaterland blieb dem alten Burschenschafter unverloren; sein 
innerstes Gefühl empörte sich, wenn die dänischen Beamten ihm das alte 
Hohnwort entgegenhielten, die Schleswig-Holsteiner sollten sich doch freuen, 
lieber etwas, nämlich Dänen zu sein, als gar nichts, nämlich Deutsche. 
Durch seine amtliche Tätigkeit lernte er dann den Schlendrian und die ver- 
ständnislose Ungerechtigkeit der aus der Fernewirkenden Regierung gründlich 
kennen. Auch die konstitutionellen Gedanken der Zeit ergriffen ihn mächtig, 
er meinte die Stunde gekommen für die europäische Herrschaft des Bürger- 
tums, und verlockend nahe lag dem Kopenhagener Beamten das Vorbild 
der schwedisch-norwegischen Union; der dänische Kronprinz Christian selbst 
hatte ja einst den Norwegern ihre gerühmte Bauernverfassung verliehen. 
In solchem Sinne äußerte sich Lornsen oft gegen seine deutschen Amts- 
genossen; alle hörten bewundernd zu, wenn er sich erhob, ein hochge- 
wachsener Nordlandsrecke mit buschigem, blondem Haar, geistvollem Munde, 
tiefen, blauen Augen, und in unwiderstehlicher Rede, scurig zugleich und 
würdevoll, seine Gedanken entfaltete. Leider schlummerte bereits der Keim 
der Krankheit in diesem groß angelegten Geiste; er meinte sich gequält 
von einem halb wirklichen, halb eingebildeten unheilbaren Leiden, und sein 
Wahn lähmte ihm in entscheidender Stunde den Mut. Der Stolze fühlte, 
daß er vor vielen voraus hatte, was seine Friesen als höchste Mannes-
	        
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