254 IV. 4. Landtage und Feste in Oberdeutschland.
müßten und trotzdem nie einen Soldaten zu Gesicht bekämen, daß die Her-
zogin-Witwe aus St. Wendel weggezogen sei, daß so viele Koburger und
Gothaer angestellt würden, während Lichtenberg doch an einheimischen Ta-
lenten Überfluß hätte. Da diese und andere Beschwerden fruchtlos blieben,
so brach bald eine gemütliche Anarchie herein; denn das Land wurde schlecht
verwaltet, nach französischen Gesetzen, aber ohne die stramme Ordnung des
Präfektensystems; die Regierung tat gar nichts, um dem Schmuggel zu
wehren und ihre armen Bauern vor dem verbrecherischen Treiben der Bande
noire, der Wucherjuden zu schützen. Überall Volksversammlungen und
tobende Straßenaufzüge, auch viele „Rotkäppchen“ mit Jakobinermützen
zeigten sich unter dem Haufen. In St. Wendel hielt der Pfarrer Juch regel-
mäßig einen „Markt“, um den Bauern die radikalen pfälzischen Blätter
vorzulesen und zu erläutern. Auf die Bitte des Herzogs rückten einige
preußische Truppen ein, und sofort nach ihrem Erscheinen ward alles still;
doch kaum waren sie abgezogen, so begann der Lärm von neuem, bis
endlich vor der alten Hallenkirche zu St. Wendel ein mächtiger Freiheits-
baum aufgepflanzt wurde mit der trutzigen Inschrift: „Welcher Henkers-
knecht es wagt mit frevelnder Hand dieses Heiligtum anzutasten, ist des
Todes!“ Der Pöbel ließ die Gendarmen nicht heran und tanzte die
Nacht hindurch die Carmagnole um das Symwbol der Freiheit.
Mittlerweile begannen auch die bayrischen Pfälzer vom Zeitungslesen
zu Tätlichkeiten vorzuschreiten. In jedem Wirtshause des weinseligen
Landes saßen die politisierenden Krischer zusammen. Da und dort ward
ein Freiheitsbaum aufgerichtet und durch die Massen gegen die Polizei-
mannschaft verteidigt, oder auch ein Hund gekrönt und dann feierlich
ausgeprügelt. Wirth bildete im Anschluß an die Polenvereine einen
Vaterlandsverein zum Schutze der freien Presse, der sich bald über
mehrere Städte des Südwestens verzweigte, und stellte den Genossen zur
höchsten Aufgabe die Neugestaltung des Deutschen Bundes: an der Spitze
der Nation steht eine erwählte Nationalkammer und ein ausführender
Präsident, auf zwei Jahre gewählt, den Volksvertretern unbedingt unter-
worfen; jede deutsche Provinz darf sich durch Volksabstimmung als
selbständiger Bundesstaat einrichten, mit einer republikanischen oder kon-
stitutionellen Verfassung. Ein solches Programm erschien der Mehrzahl
der Vereinsmitglieder doch bedenklich, es ward für jetzt noch verworfen;
aber wohin sollte das wüste Treiben aller dieser Zeitungen und Vereine
noch führen, hier dicht vor den Toren der radikalsten deutschen Stadt,
Mainz, an der Grenze des begehrlichen Frankreichs? Schon wußte man
in Berlin, daß der französische Gesandte Mortier dem bayrischen Minister
Gise vertraulich erklärt hatte: fremde Truppen — das will sagen: Bundes-
truppen — könne Frankreich in der Rheinpfalz unmöglich dulden.“)
*) Küsters Bericht, 5. April 1832.