Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Vierter Teil. Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. (27)

22 IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede. 
gegen die anglikanische Kirche zugleich die Machtstellung des parlamenta— 
rischen Adels und öffnete die Bresche für den Einzug eines demokratischen 
Zeitalters. Laut und lauter erklang sofort der Ruf nach Reform des 
Parlaments. Noch einmal, aber in völlig veränderter Gestalt zeigte sich 
der für Englands Geschichte so folgenreiche landschaftliche Gegensatz des 
Südostens und des Nordwestens. Wie oft hatten in früheren Jahrhun— 
derten die Mächte der Bewegung in den Ebenen des Südostens ihr Lager 
aufgeschlagen; seitdem war das Bergland des Nordwestens längst aus seiner 
Abgeschiedenheit herausgetreten, hier lagen die Bergwerke und die Fabrik— 
städte des neuen Englands, hier begannen sich die alten sozialen Macht— 
verhältnisse gänzlich zu verschieben, da das Landvolk unaufhaltsam in die 
Städte strömte, und gebieterisch forderten die mächtig aufblühenden großen 
Gewerbsplätze ihren Anteil am Parlamente, während die verfaulten 
Wahlflecken des Südostens mehr und mehr verödeten. Als im Sommer 
1830 die Neuwahlen begannen, hatte soeben Wilhelm IV. den Thron 
bestiegen, der Matrosenkönig, wie das Volk ihn nannte, ein wohlwollen— 
der, derb gemütlicher Herr, beschränkten Geistes, aber ehrlich und der 
Zeit nicht so ganz entfremdet wie vordem sein Bruder Georg IV. 
Mitten hinein in die Stürme des Wahlkampfes fielen nun zündend 
die Nachrichten aus Paris. Der alte Nationalhaß war mit einem Male 
verschwunden, Zeitungen und Volksredner wetteiferten im Lobe der großen 
Nation, mancher Heißsporn schwenkte seinen Hut mit den drei Farben, 
in Scharen eilten die Besitzenden nach Paris, um sich dort mit den 
Nationalgardisten zu verbrüdern und den wahrheitsgetreuen Berichten 
dieser Bürgerhelden über die Wunder der großen Woche andächtig zu 
lauschen. Die weltbürgerlichen Lehren des festländischen Radikalismus, 
die zur Zeit der ersten Revolution nur in den vereinzelten demokratischen 
Klubs der Hauptstadt Anklang gefunden hatten, drangen nun zuerst bis 
in die Massen des Volks; in den Arbeiterversammlungen ward der Bruder— 
bund der befreiten Völker besungen: „Seht, frei ist Frankreich schon! 
Italiens Helden drohn. Deutschland wird mit uns gehn, Polen soll 
auferstehn!“ Radikale und Liberale fanden sich zusammen im Kampfe 
gegen die Aristokratie. Während Cobbet durch die fanatischen Aufsätze 
seines „Registers“ die Massen aufwiegelte und selbst in den Vereinen 
wohlhabender Londoner schon radikale Wünsche, sogar die Forderung des 
Zwangsmandats für die Abgeordneten, laut wurden, vertraten Brougham 
und Jeffrey in der whiggistischen Edinburgh Review behutsamer die An— 
sprüche der erstarkten Mittelklassen. 
Unterdessen erfanden die gelehrten Radikalen der Westminster Review 
die wissenschaftlichen Formeln für die Weltanschauung des herannahenden 
demokratischen Zeitalters. Es waren die Schüler Jeremias Benthams, 
der jetzt noch am späten Abend eines arbeitsreichen Lebens seine Saaten 
aufgehen sah. Der alte Einsiedler stand noch immer fest auf dem Boden
	        
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