Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Vierter Teil. Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. (27)

Englischer Radikalismus. 23 
jener alten englischen Aufklärungsphilosophie, welche dann, von den Fran— 
zosen weitergebildet, in den Menschenrechten des Jahres 89 ihre Vollen— 
dung gefunden hatte. Während die Radikalen des Festlandes selbstgefällig 
wähnten auf der freien Höhe der Zeit zu stehen, erklärte Benthams be— 
gabtester Schüler, der frühreife, ehrlich begeisterte John Stuart Mill mit 
der ganzen Aufrichtigkeit altkluger Jugend: dies neunzehnte Jahrhundert 
sei im Grunde reaktionär; durch Herder und Goethe, durch die historischen 
Rechtslehren der Deutschen sei der freiheitsmörderische Wahn verbreitet 
worden, daß die Staatslehre nur relative Wahrheiten finden könne, daß 
die Verfassung abhänge von der natürlichen Ungleichheit der Menschen 
und dem gegebenen Machtverhältnis der sozialen Kräfte. Darum zurück 
zu der alten Naturrechtslehre, deren letzte Folgerungen niemand so un— 
erschrocken ausgesprochen hat wie Bentham: der Staat besteht aus Einzel— 
wesen, die ihrem Nutzen nachgehen; er hat keinen eigenen Zweck, sondern 
dient nur als Mittel, um der größten Zahl von Menschen das größte 
Wohlsein zu verschaffen; wird er gänzlich demokratisiert, so muß schließlich 
die Macht der Arbeit, der Bildung, der freien Rede den künstlichen, nur 
durch äußere Umstände bedingten Unterschied zwischen den Personen, den 
Rassen, den Geschlechtern völlig vernichten. Solche Träume von der 
Allmacht einer demokratischen Gesetzgebung liefen freilich den politischen 
überlieferungen der gesamten germanischen Welt schnurstracks zuwider; 
die materialistische Weltanschauung aber, die ihnen zu Grunde lag, war 
in England noch niemals wissenschaftlich überwunden worden, da diesem 
Volke der Baconianer der spekulative Tiefsinn fehlte. Ganz unvermittelt 
stand hier noch neben dem strengen Kirchenglauben die Moral des platten 
Verstandes, der alle sittlichen Güter nach dem Maßstabe der Nützlichkeit 
abschätzte; und wie verlockend, wie großartig erschien die Aussicht auf den 
unendlichen Fortschritt des materiellen Wohlbefindens, auf das ewige 
improvement gerade jetzt, da wirklich eine neue Epoche der Volkswirt- 
schaft begann. Eben in diesen Tagen wurde die erste größere Eisenbahn, 
zwischen Manchester und Liverpool, eröffnet, wobei einer der Bahnbrecher 
der neuen Zeit, Huskisson, seinen tragischen Tod fand. Die Leistungen 
der Dampfmaschinen übertrafen jede Erwartung, aber auch das Massen- 
elend der Großindustrie bekundete sich schon in stürmischen Arbeitsein- 
stellungen. 
Das ganze Land geriet in Bewegung, und aus dem Wahlkampfe 
ging die Opposition siegreich hervor. Schon im November trat Wellington, 
der diesmal dem Strome nicht folgen wollte, vom Ruder zurück, und 
noch ehe das Jahr zu Ende ging, bildete Lord Grey ein neues Kabinett 
aus Whigs und einigen Freunden Cannings. Nunmehr brachte der 
junge Lord John Russel seine Reformbill ein. 
Aber noch ein volles Jahr hindurch tobte in der Presse und den 
Vereinen, auf Märkten und Straßen ein leidenschaftlicher Kampf, bis
	        
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