Englischer Radikalismus. 23
jener alten englischen Aufklärungsphilosophie, welche dann, von den Fran—
zosen weitergebildet, in den Menschenrechten des Jahres 89 ihre Vollen—
dung gefunden hatte. Während die Radikalen des Festlandes selbstgefällig
wähnten auf der freien Höhe der Zeit zu stehen, erklärte Benthams be—
gabtester Schüler, der frühreife, ehrlich begeisterte John Stuart Mill mit
der ganzen Aufrichtigkeit altkluger Jugend: dies neunzehnte Jahrhundert
sei im Grunde reaktionär; durch Herder und Goethe, durch die historischen
Rechtslehren der Deutschen sei der freiheitsmörderische Wahn verbreitet
worden, daß die Staatslehre nur relative Wahrheiten finden könne, daß
die Verfassung abhänge von der natürlichen Ungleichheit der Menschen
und dem gegebenen Machtverhältnis der sozialen Kräfte. Darum zurück
zu der alten Naturrechtslehre, deren letzte Folgerungen niemand so un—
erschrocken ausgesprochen hat wie Bentham: der Staat besteht aus Einzel—
wesen, die ihrem Nutzen nachgehen; er hat keinen eigenen Zweck, sondern
dient nur als Mittel, um der größten Zahl von Menschen das größte
Wohlsein zu verschaffen; wird er gänzlich demokratisiert, so muß schließlich
die Macht der Arbeit, der Bildung, der freien Rede den künstlichen, nur
durch äußere Umstände bedingten Unterschied zwischen den Personen, den
Rassen, den Geschlechtern völlig vernichten. Solche Träume von der
Allmacht einer demokratischen Gesetzgebung liefen freilich den politischen
überlieferungen der gesamten germanischen Welt schnurstracks zuwider;
die materialistische Weltanschauung aber, die ihnen zu Grunde lag, war
in England noch niemals wissenschaftlich überwunden worden, da diesem
Volke der Baconianer der spekulative Tiefsinn fehlte. Ganz unvermittelt
stand hier noch neben dem strengen Kirchenglauben die Moral des platten
Verstandes, der alle sittlichen Güter nach dem Maßstabe der Nützlichkeit
abschätzte; und wie verlockend, wie großartig erschien die Aussicht auf den
unendlichen Fortschritt des materiellen Wohlbefindens, auf das ewige
improvement gerade jetzt, da wirklich eine neue Epoche der Volkswirt-
schaft begann. Eben in diesen Tagen wurde die erste größere Eisenbahn,
zwischen Manchester und Liverpool, eröffnet, wobei einer der Bahnbrecher
der neuen Zeit, Huskisson, seinen tragischen Tod fand. Die Leistungen
der Dampfmaschinen übertrafen jede Erwartung, aber auch das Massen-
elend der Großindustrie bekundete sich schon in stürmischen Arbeitsein-
stellungen.
Das ganze Land geriet in Bewegung, und aus dem Wahlkampfe
ging die Opposition siegreich hervor. Schon im November trat Wellington,
der diesmal dem Strome nicht folgen wollte, vom Ruder zurück, und
noch ehe das Jahr zu Ende ging, bildete Lord Grey ein neues Kabinett
aus Whigs und einigen Freunden Cannings. Nunmehr brachte der
junge Lord John Russel seine Reformbill ein.
Aber noch ein volles Jahr hindurch tobte in der Presse und den
Vereinen, auf Märkten und Straßen ein leidenschaftlicher Kampf, bis