Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Vierter Teil. Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. (27)

Palmerston. 27 
Vorteil, das expedient, wie er es gern nannte, entschuldigte jeden Bruch 
der Treue und des Rechts. Durch und durch Politiker, ohne Sinn für 
die Kunst und die idealen Mächte des Menschenlebens, aber auch frei 
von Selbstüberschätzung und Gefühlsseligkeit, folgte er stets seinem an— 
geborenen praktischen Instinkte; Grundsätze und Doktrinen beirrten ihn 
so wenig wie Gewissensbedenken. Er wußte, daß er seinen Weg machen 
würde, wenn er nur immer im Sattel bliebe; ruhig schlug er ein hohes 
Amt aus, dem er sich noch nicht gewachsen fühlte, und ohne Murren 
nahm er nachher lange vorlieb mit einer Stellung zweiten Ranges, ob- 
gleich er schon Größeres erwartet hatte. 
Auf die Dauer konnte ihm der Erfolg doch nicht fehlen; denn von 
früh auf war er der Liebling der Salons, die Geschäfte hinderten ihn 
nicht, fröhlich zu leben und leben zu lassen, an jedem Sport der vornehmen 
Gesellschaft eifrig teilzunehmen. Er verlachte das scheinheilige Wesen 
seiner Standesgenossen und gestand mit wohltuender Aufrichtigkeit zu, 
wie sehr ihm die Weiber und alle Freuden dieser Welt wohlgefielen; noch 
im Alter hörte er sich gern bei seinem Schmeichelnamen Lord Cupid 
rufen. Wenn er in tiefer Nacht elastischen Schrittes aus einer langen 
Sitzung des Unterhauses heimwanderte, immer mit einer Blume im 
Munde oder im Knopfloch, den Regenschirm geschultert, den hohen Hut 
weit auf den Hinterkopf hinaufgeschoben, dann freuten sich seine Lands- 
leute dieses Bildes altenglischer Lebensfrische. Sein ganzes Wesen atmete 
fröhliches Behagen; der starke viereckige angelsächsische Kopf mit den ver- 
schmitzten, weit vom Nasenbein abstehenden Augen erinnerte zugleich an 
die Kraft der Dogge und an die List des Fuchses. Seinen Hintersassen 
war er ein gütiger Grundherr, die Vettern und Freunde versorgte er nach 
englischem Adelsbrauche mit fetten Pfründen, doch niemals hat er einem 
Unfähigen absichtlich ein wichtiges Amt anvertraut. Wenn ihm ein Gegner 
den Weg kreuzte, so nahm Palmerston unfehlbar früher oder später seine 
Vergeltung; dann aber vergaß er schnell, nachtragender Haß blieb dem 
Leichtlebigen fremd. Ihm fehlte die Größe und die Tiefe einer ursprüng- 
lichen, gedankenmächtigen Natur. Seine Stärke lag in dem feinen 
Spürsinn, der jeden Wechsel der Volksstimmung vorauswitterte, und 
je länger er am Ruder stand, um so genauer lernten er und seine 
Briten einander verstehen, bis er ihnen schließlich als der vollkommene 
Vertreter des nationalen Geistes erschien. 
Fremde Völker kannte er nicht, und er wollte sie nicht kennen; nur 
für Italien, wo er einige Jugendjahre verlebt hatte, und für den leichten 
Ton der Pariser Salons hegte er einige Vorliebe. Über die Deutschen 
urteilte er so, wie es die Torys alle aus Cannings giftigen Schmäh- 
gedichten in der Antijakobinischen Review gelernt hatten, ) er sah in ihnen 
  
*) s. Beilage XVII.
	        
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