412 IV. 7. Das Junge Deutschland.
wendigkeit herantrete, „sich von dem Zustande des augenblicklichen Welt—
laufes im realen und idealen Sinne zu unterrichten“.
Noch mächtiger redete dies starke Zukunftsgefühl aus seinem letzten
großen Werke, einer prophetischen Dichtung, die, von der tatenarmen und
zuchtlosen Mitwelt kaum begriffen, erst heute einem an Heldenkraft und
darum auch an frommer Ehrfurcht reicheren Geschlechte langsam verständ—
lich wird. Sehr selten geschieht es, daß ein greiser Meister verscheidet,
bevor er sein Lieblingswerk vollendet hat; es ist, als läge in solchen Leib
und Seele spannenden Aufgaben eine geheimnisvolle Kraft, die den Lebens-
faden nicht abreißen läßt. Seit mehr als zwanzig Jahren beschäftigte die
Gestalt des Faust die Gemüter der Menschen so lebhaft, wie nur je ein
historischer Held. Philosophen und Poeten versuchten das Bruchstück zu er-
gänzen, jeder fühlende Leser fragte unwillkürlich, wie dieser hohe Mensch
enden müsse, in dem alle die eigensten Züge des deutschen Geistes er-
kannten. Goethe wußte, daß die Augen der Besten seines Volkes auf ihn ge-
richtet waren, wenn er jetzt in jedem frohen Augenblicke an seiner Dichtung
still weiter arbeitete und den ganzen Schatz seiner unvergleichlichen Lebens-
erfahrung wie in ein großes Tagebuch in sie eintrug. Wenige Wochen
vor seinem Tode, fast sechzig Jahre, nachdem er den ersten kühnen Plan
gefaßt, schloß er das Werk ab, soweit der unendliche Stoff sich erschöpfen
ließb, und gestand, daß er sein ferneres Leben nunmehr nur noch als ein
reines Geschenk Gottes betrachten wolle. So durch zwei Menschenalter
beständig fortgebildet und ergänzt, mußte der zweite Teil des Gedichts
an ursprünglicher Frische und künstlerischer Rundung ebensoviel ver-
lieren, wie er an Gedankenfülle gewann.
Der Faust war das echte Kind der Epoche des dichterischen Sturmes
und Dranges; nur die Jugend, die alles verheißt und alles verlangt,
konnte in dem Bilde des ungeduldig wider die allgemeinen Erdenschranken
ankämpfenden Titanen ihr eigenes Herz wiederfinden. Schon als er den
ersten Teil herausgab, empfand der Dichter zuweilen, wie fern ihm jetzt
dieser himmelstürmende Trotz seiner jungen Tage lag, und er klagte: „So
gib mir auch die Zeiten wieder, wo ich noch selbst im Werden war.“ Um die
zarten Nerven der Leser zu schonen, beseitigte er aus den ersten Entwürfen
manchen Zug genialer Frechheit, der zum Wesen der gespenstischen Fabel
gehörte, sogar das schauerlich schöne Blutlied der Düämonen: „Wo fließet
heißes Menschenblut, der Dunst ist allem Zauber gut,“ und der diabolische
Humor der Walpurgisnacht auf dem Blocksberge verblaßte etwas unter
seinen umbildenden Händen. Seitdem waren nochmals zwanzig reiche
Jahre über sein Haupt dahingegangen; er fühlte sich den Gestalten seiner
Dichtung so fremd, daß er keinen Anstand nahm, die lieblich naive Garten-
szene des ersten Teils für die Komposition des Fürsten Radziwill zu
einem frostigen Opernquartett umzuarbeiten. Nicht ohne gewaltsame
Selbstüberwindung konnte er also aus der beschaulichen Stimmung des