Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Vierter Teil. Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. (27)

446 IV. 7. Das Junge Deutschland. 
Lyrik ganz dem Auslande zugewendet, erst die Spanier und die Griechen, 
dann die Franzosen und die Polen verherrlicht; Anastasius Grün führte 
sie wieder in die Heimat zurück. Mit ihm begann die Flut der patrio— 
tischen Zeitgedichte; sie schwoll stärker an, als gegen das Ende der dreißi- 
ger Jahre für die Göttinger Sieben und das Hermannsdenkmal auf dem 
Teutoburger Walde gesammelt wurde, und überschwemmte im folgenden 
Jahrzehnt den ganzen Büchermarkt. Von tiefen politischen Ideen besaß 
der Wiener Poet nichts; er schwärmte nur treuherzig für die Freiheit des 
Wortes und der Gedanken, er neigte sich in Ehrfurcht nicht bloß vor dem 
Abgott aller liberalen Osterreicher, Joseph II., sondern sogar vor Kaiser 
Franz, und richtete seinen Zorn ausschließlich gegen Metternich. An dessen 
Türe sah er einen „dürftigen Klienten“ stehen: 
OÖstreichs Volk ist's, ehrlich, offen, wohlerzogen auch und sein, 
Sieh, es fleht ganz artig: Dürft' ich wohl so frei sein frei zu sein? 
Aber gerade diese unbestimmte Begeisterung für die Freiheit entsprach den 
Gesinnungen der Zeit, und da Metternich für den Urheber alles deut- 
schen Elends galt, so bemerkte man auch kaum, daß der Wiener nur sein 
Österreich und die Stadt der Lerchen und des Doppeladlers im Auge 
hatte, an Deutschland nur ganz nebenbei dachte. Die Süddeutschen vor- 
nehmlich hießen ihn als Kampf= und Sangesgenossen willkommen; denn 
er stellte seine Lieder mit Worten treuer Liebe unter Uhlands Schutz, 
seine frischen bilderreichen Verse verrieten überall den Einfluß der schwä- 
bischen Schule, und wie viel traulicher als der Hohn des Jungen Deutsch- 
lands klang den Oberländern diese Sprache des Herzens. — 
Den prosaischen Lebensformen der modernen Welt, den Interessen 
und Gedanken der verwandelten Gesellschaft vermochte die lyrische Dichtung 
längst nicht mehr zu genügen. Was die neue Zeit an poetischem Gehalte 
besaß, konnte nur der Romandichter erschöpfend aussprechen, wenn er 
in ungebundener Rede den Kämpfen und Widersprüchen des wirklichen 
Lebens nachging. Mochten die Asthetiker der Hegelschen Schule immer- 
hin versichern, daß die Ideale der Gegenwart im Drama allein die voll- 
endete künstlerische Gestaltung empfangen müßten: die Erfahrung jedes 
Tages strafte sie Lügen. Die ästhetische Empfänglichkeit eines Volkes läßt 
sich durch die Machtsprüche der Theorie ebensowenig meistern wie die 
Gestaltungskraft der Künstler. Der Roman wurde in Deutschland für 
lange Jahre die zeitgemäße Form der Dichtung wie ein Jahrhundert zu- 
vor in England. 
Das zeigte sich, als Karl Immermann nach langen Irrfahrten end- 
lich den rechten Boden für sein Schaffen fand. Von einem strengen 
Vater noch ganz im Geiste des alten fridericianischen Staates erzogen, 
war der stolze, tapfere Niedersachse von früh auf seines eigenen Weges 
gegangen. Gleich seine erste Schrift war eine Tat des Charakters. 
Da er als Hallenser Student einen mißhandelten Kommilitonen gegen
	        
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