Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Vierter Teil. Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. (27)

Rauch und seine Schüler. 461 
schen Geschichte, daß alle die kleinen Bäche der Stammesgeschichten nach 
und nach, wie durch eine geheimnisvolle Naturgewalt getrieben, zu einem 
Strome zusammenfließen, bis schließlich jeder Teil der Nation an der 
Größe des Vaterlandes seinen Anteil gewinnt. So gewiß der Süden an 
dichterischer Gestaltungskraft den Norden überbot, ebenso gewiß waren die- 
Nordgermanen im Verständnis wie in der Kunst der Plastik den Ober- 
ländern überlegen. Die Niederdeutschen Winckelmann und Carstens, 
Schinkel und Rauch erweckten uns zuerst den Sinn für die Formenschön- 
heiten der Antike; neben ihnen der stammverwandte Däne Thorwaldsen 
und der Holsteiner Zoega, der Archäolog. In Berlin fühlte sich Rauch 
nirgends glücklicher als bei Wilhelm Humboldt, der ihm noch von Rom 
her ein treuer Gönner war, und bei Schinkel, denn beide glaubten wie 
er selbst an die Wahlverwandtschaft des hellenischen und des germanischen 
Genius. Es war sein Stolz, daß Preußen mehr als irgendein anderer 
Staat für das Studium der Antike tat; die neuen Gipsmuseen an den 
Universitäten Bonn, Königsberg, Breslau förderte er eifrig, auch ein 
großes Lager von Marmorblöcken ließ er in Berlin zusammenbringen. 
Mit den Jahren wuchs seine Freude an den klassischen Formen. Darum 
empfand er es fast wie eine Erlösung, als ihm König Ludwig den Auftrag 
gab, die Regensburger Walhalla mit sechs kolossalen Viktorien zu schmücken. 
Nun konnte er doch endlich „die ewigen Pantalons“ der preußischen Feld- 
herrnstatuen in den Winkel werfen und an „dem edlen Nackten“ sein Auge 
weiden. Diese herrlichen Frauengestalten blieben sein Lebensglück für viele 
Jahre. Daneben fand er noch Zeit für das ganz realistisch gedachte Nürn- 
berger Dürer-Denkmal; und den Bibelspruch „Lasset die Kindlein zu mir 
kommen“ verkörperte er, rührend einfach, in dem Standbilde des frommen 
Francke zu Halle. Auch die Nachklänge der Romantik berührten ihn einmal 
leise, als er die liebliche Statuette der auf dem Hirsche reitenden Jungfrau 
von Tangermünde schuf. Langsam gereift, gelangte er erst, als er den Sech- 
zigern nahe war, zur Vollkraft seines Schaffens. Mit peinlicher Sorg- 
falt, als hätte er noch gar nichts geleistet, bereitete er seine Werke vor. 
Auf der Reise bemerkte er jeden wohlgeformten Baum, jeden anmutigen 
Hügel, nur wenn die Dunkelheit hereinbrach, fühlte er sich unglücklich; 
seiner Tochter in Halle mauerte er bei jedem Besuche Reliefs in die Wände 
ihres Vorsaals, ein plastisches Stammbuch, das sie an des Vaters Leben 
und Denken erinnern sollte. Die Kunst war ihm alles, und ganz wie 
ein König fühlte er sich in seinem Reiche; alle Leute sahen ihm nach, wenn 
er zur Winterzeit, in seinen hellen faltenreichen Mantel gehüllt, majestätisch 
die Linden hinunterschritt. Unter seiner strengen Leitung wurde die Berliner 
Bildhauerschule auf ein Menschenalter hinaus die erste der Welt. Viele 
tüchtige Künstler, fast durchweg Nord= und Mitteldeutsche, gingen aus ihr 
hervor: so Drake aus dem Waldecker „Genieländchen“, das auch das 
Geburtsland von Rauch selbst, von Kaulbach und Bunsen war, so Kiß,
	        
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