Rankes Schule. 467
schauung der geschilderten Zeit, daß manche seiner Charakterschilderungen
fast den Eindruck erweckten, als ob zwei schlaue Monsignori des siebzehnten
Jahrhunderts sich einander vorstellten. Von den Höfen, denen er seine
diplomatische Kunde verdankte, blickte er ungern hinab in die Niederungen
der Gesellschaft. Und doch ist das Licht der evangelischen Wahrheit in so
vielen edlen Völkern unzweifelhaft nicht durch die diplomatischen Künste
kluger Kardinäle wieder ausgelöscht worden, sondern durch die rohen
Kräfte der Dummheit, des Aberglaubens, der Gewohnheit, des Hasses, die
in den blinden Massen arbeiteten und von den Staatsmännern des Vati—
kans nur benutzt wurden. Diese tierischen und dämonischen Mächte der
Geschichte beachtete Ranke wenig; weder die wiehernde Blutgier der Mord-
banden der Bartholomäusnacht noch das fanatische ni olvido ni perdon
der spanischen Soldateska führte er den Lesern dicht unter die Augen. Er
zeigte nicht, weshalb Martin Luther den gekrönten Priester für den Anti-
christ halten mußte; und auch die radikale Unvernunft des Jesuitenordens,
der doch alle Staaten, in denen er herrschte, zuletzt unfehlbar zu Grunde
richtete, trat nicht grell genug heraus. Die ernste Frage, warum die brutale
Macht einen halben Sieg über die Idee davontragen konnte, ward also
nicht vollständig beantwortet.
Während der Arbeit fühlte Ranke selbst, daß die sittliche Überlegen-
heit des germanischen Protestantismus in seinem Buche nicht recht zur
Geltung kam, und faßte schon den Plan, in einem neuen Werke, einem
Gegenbilde, die große Zeit der Anfänge der deutschen Reformation darzu-
stellen. Wieviel schwerer dies sei, wußte er wohl. „So etwas können
wir nicht zustande bringen,“ sagte er einmal über ein Buch von Aug.
Thierry, denn die Fülle des Moments aus der vaterländischen Vergangen-
heit herauszugreifen mußte den Franzosen allerdings leichter gelingen als
den Deutschen. Doch er traute sich's zu, durch die Wärme seines reli-
giösen Gefühls zu ersetzen, was ihm an patriotischer Leidenschaft abging.
Unterdessen nahm er seine Berliner Vorlesungen wieder auf und begrün-
dete dort das erste der historischen Seminare, welche seitdem, durch seine
Schüler weitergebildet, auf allen unseren Universitäten die methodische
Quellenforschung gepflegt haben. Seine Schule wurde die Pflanzstätte
einer neuen Generation von Historikern. Waitz, Sybel und viele andere
aufstrebende Talente schlossen sich ihm an, auch die Bönhasen konnten
sich der Einwirkung seines schöpferischen Geistes bald nicht mehr entziehen.
Da die Stiftung Steins, das große Sammelwerk der Monumenta Ger-
maniae unter Pertz' Leitung rüstig vorgeschritten war, so regte Ranke
die jungen Männer zur Verwertung des Rohstoffes an, und mit den
„Jahrbüchern des Deutschen Reichs unter dem sächsischen Hause“ begann
eine lange Reihe gründlicher Arbeiten, die den Tatbestand unserer mittel-
alterlichen Geschichte ganz anders sicherstellten, als Raumer es einst ver-
mocht hatte.
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