588 IV. 8. Stille Jahre.
deutsches Bild: diese gewaltige Erfindung zuerst in einer stillen Gelehrten—
stadt, deren behäbige Bürgerschaft sich vom Welthandel gar nichts träumen
ließ! Die beiden Gelehrten behaupteten, ihr Telegraph müsse auch auf
weite Entfernungen, Länder und Völker verbindend, mit der gleichen Sicher-
heit wirken, und Wilhelm Weber erbot sich (1836), neben der Leipzig-
Dresdener Bahn, zunächst bis Wurzen, eine Drahtleitung anzulegen; die
Kosten des Versuchs schätzte er auf 2000 Tlr. Das sparsame Komitee
wollte aber eine solche Summe nicht an einen zweifelhaften Erfolg wagen.
So blieb die deutsche Erfindung liegen, bis die Amerikaner nach Jahren
sich ihrer bemächtigten und sie dem Weltverkehre dienstbar machten.
Am 7. April 1839 wurde die ganze Bahn eröffnet, und noch lange
erzählte sich das Volk von den Abenteuern dieser ersten Fahrten. Auf
einer Station war ein Leipziger Student mitsamt einem unbezahlten
Glase Bier dem Kellner hohnlachend davongefahren; in dem gefürchteten
Tunnel pflegten die Damen reiferen Alters eine Stecknadel zwischen die
Lippen zu nehmen, um sich gegen die Liebkosungen ausschweifender Jüng-
linge zu sichern. Vorsichtige Arzte wollten von der Tunnelfahrt, die fast
eine Minute währte, überhaupt nichts hören; sie befürchteten, bei dem
plötzlichen Luftwechsel müsse ältliche Leute der Schlag rühren, und aller-
dings waren die Wagen der dritten Klasse noch unbedeckt, die der zweiten
ohne Fenster. Daß die Schienen und die Räder durch die ungeheure
Reibung notwendig in Brand geraten müßten, war die allgemeine An-
sicht; erst die vollendete Tatsache schlug alle Befürchtungen zu Boden.
Der Erfolg übertraf die kühnsten Erwartungen. Erstaunlich wie diese
erste große Eisenbahn auch auf den benachbarten Landstraßen Mittel-
deutschlands sofort die Reiselust belebte; im Jahre 1828 beherbergten die
Dresdner Gasthöfe 7000 Fremde, in den ersten drei Vierteljahren 1839
bereits 36000. Schon in ihrem ersten Jahre beförderte die Bahn 412000
Personen und 3,85 Mill. Meilen-Zentner. Im zweiten Jahre sank der
Personenverkehr um ein Geringes, weil sich die erste Neugierde etwas
gelegt hatte; der Güterverkehr aber stieg mit einer ganz ungeahnten
Schnelligkeit. Anfangs waren viele Frachtfuhrleute noch gemächlich auf
der Landstraße neben dem Dampfwagen hingefahren, weil die Spediteure
die Kosten des Umladens scheuten. Erst seit die Bahn Anschlüsse erhielt
und die Anfuhr zu den Bahnhöfen erleichterte, riß sie auch den Güter-
verkehr an sich, und nach einer Reihe von Jahren ergab sich, daß sie von
den Gütern mehr einnahm als von den Personen. Dies widersprach allen
Vorhersagungenz hatte doch selbst der berühmte Arago versichert, eine Eisen-
bahn könne vielleicht Personen, doch unmöglichgroße Gütermassen befördern.
Leider erlebte List an diesem Triumphe seiner Idee wenig Freude.
Es gibt einsame Genies, die wohl durch schöpferische Gedanken ihre Nation
erwecken und erheben können, aber nicht fähig sind, mit ihrer vollsaftigen
ursprünglichen Kraft in dem alltäglichen kleinen Getriebe des öffentlichen