Erste Wirkungen der Eisenbahnen. 597
atemloses Treiben nahm überhand, eine fieberische Begehrlichkeit nach
dem Neuen und Unbekannten, ein Drang nach Genuß und Gewinn, der
von dem überspannten Idealismus des älteren Geschlechts unheimlich ab—
stach. Die Geselligkeit verödete. Je mehr die Zahl der Briefe zunahm,
um so dürftiger wurde ihr Inhalt, und seit die Zeitungen sich mehrten,
schrieb der gebildete Mann fast nur noch Geschäftsbriefe. Der anschwel—
lende Verkehr wirbelte alle Stände dermaßen durcheinander, daß der
Kastendünkel sich kaum mehr halten konnte. Die Gesellschaft demokrati—
sierte sich, die Umgangssprache ward kürzer, geschäftlicher, aber auch grob
und ungemütlich. Der Durchschnittsmensch empfing eine Masse neuer
Eindrücke und Kenntnisse, doch je mehr sie sich drängten, um so weniger
hafteten sie. Das neue Geschlecht krankte an einer vielseitigen, oberfläch—
lichen Bildung, an übersättigung, Zerstreutheit, Anmaßung. Die großen
Städte wuchsen unaufhaltsam, manche der kleinen sanken, eine krampfhafte
Lust an den großstädtischen Genüssen verbreitete sich weithin im Volke,
und mit der Macht der Massenkapitalien stieg auch das Massenelend.
Für das zerrissene Deutschland war der Segen dieser neuen Ver—
hältnisse doch ungleich größer als ihre Nachteile. Der schreiende Wider—
spruch geistiger Größe und wirtschaftlicher Armseligkeit konnte nicht fort—
dauern, ohne den Charakter des Volkes zu gefährden. Die werdende poli—
tische Macht des neuen Deutschlands bedurfte des Wohlstandes und der
kecken Unternehmungslust, das verhockte und verstockte Treiben der Klein—
städter einer kräftigen Aufrüttelung. Der unwürdige polizeiliche Druck,
der auf dem deutschen Leben lag, konnte weder durch Kammerreden noch
durch Zeitungsartikel überwunden werden, sondern nur durch die physische
Macht eines aller Überwachung spottenden gewaltigen Verkehrs. Seit
man das engere Vaterland in drei Stunden durchfuhr, kam auch dem
schlichten Manne die ganze verlogene Niedertracht der Kleinstaaterei zum
Bewußtsein, und er begann zu ahnen, was es heiße, eine große Nation
zu sein. Die Grenzen der Stämme und der Staaten verloren ihre tren-
nende Macht, zahllose nachbarliche Vorurteile schliffen sich ab, und die
Deutschen erlangten allmählich, was ihnen vor allem fehlte, das Glück,
einander kennen zu lernen. Darum nannte der deutsch-ungarische Poet
Karl Beck, in dem Feuilletonstile der Zeit, die Eisenbahnaktien „Wechsel
ausgestellt auf Deutschlands Einheit“. Auch dem Auslande gegenüber be-
währte sich dies erstarkende Selbstgefühl. Die ersten Eisenbahnen wurden
noch zum guten Teile mit englischem Kapital erbaut. Nach und nach ver-
suchte der deutsche Geldmarkt selbständiger zu werden und, was unendlich
mehr bedeutete, seit die deutschen Eisenwerke wohlfeilere Kohlen erhielten,
begannen sie die englischen Schienen zu verdrängen. Erst durch die billigen
Eisenbahnfrachten gelangte die Nation wirklich in Besitz ihrer Eisen= und
Kohlenschätze. Wieder einmal bewährte sich das alte heilsame Gesetz des
historischen Undanks. Deutschland hatte von England gelernt und schob