Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Vierter Teil. Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. (27)

Das Proletariat. 599 
der Arbeiter galt für ein unwandelbares Naturgesetz, von Pflichten der 
Arbeitgeber war kaum die Rede. 
Auch die Staatsgewalt, die in Preußen so oft schon durch ihre zwin— 
gende Gerechtigkeit soziale Mißverhältnisse ausgeglichen hatte, beachtete diese 
neuen Zustände noch wenig; denn überall lebt der Staat langsamer als 
die Gesellschaft, er vermag ihren Wandlungen nur zu folgen. Was die 
Regierung durch ihre Schutzzölle, ihre technischen Lehranstalten, durch die 
Darlehen der Bank und der Seehandlung für den Gewerbfleiß tat, kam 
unmittelbar fast allein den Unternehmern zugute. Zumal die Not der 
Hausindustrie in den Hungergebirgen Mitteldeutschlands blieb den Blicken 
der Behörden noch beinah ganz verborgen. Dort war das Elend schon sehr 
groß, Tausende fleißiger Menschen litten unter den unberechenbaren Preis— 
schwankungen des Weltmarktes; in den armen Weberdörfern am Landes— 
huter Kamme ließ sich schon bemerken, wie die durchschnittliche Lebens— 
dauer von Jahrzehnt zu Jahrzehnt abnahm. Alle diese sozialen Gefahren 
waren erst im Werden; selbst in Englands unvergleichlich höher entwickelter 
Industrie gelangten die Arbeiter erst nach dem Siege der Reformbill auf 
den Gedanken, eine eigene Arbeiterpartei zu bilden. Doch unverkennbar 
nahte die Zeit heran, da die arbeitenden Massen durch den Druck un— 
verschuldeter Not zum Selbstbewußtsein erwachen, ganz neue Ansprüche 
an Staat und Gesellschaft erheben mußten. 
Einer der ersten, welche diesen Wandel der Dinge erkannten, war 
der an guten Einfällen allezeit reiche Philosoph Franzvon Baader in München. 
Er veröffentlichte schon im Jahre 1835 eine Flugschrift über „das Miß- 
verhältnis der Vermögenslosen oder Proletairs“ — so sagte er mit einem 
bezeichnenden Fremdwort, denn seine besten Gedanken schöpfte er aus der 
Beobachtung der reicheren Volkswirtschaft Westeuropas. Er sah vor- 
aus, daß die sozialen Fragen für die moderne Welt bald noch mehr be- 
deuten würden als die politischen, und verlangte, der Staat müsse die 
Verhältnisse der Arbeiter ordnen, nicht aus Wohltätigkeit oder polizeilicher 
Vorsicht, sondern um des Rechtes willen; als die berufenen Vertreter des 
Arbeiterstandes betrachteteer freilich, nach seiner katholischen Weltanschauung, 
die Priester. Mittlerweile drangen auch die Ideen des französischen Sozia- 
lismus langsam nach Deutschland hinüber. Wie Heine eine Zeitlang 
mit dem Vater Enfantin zusammenging, so schrieb Börne Beiträge für 
Raspails sozialistische Zeitschrift Le Rékormateur. Den anderen Jung- 
deutschen mußte die bestehende Eigentumsordnung schon darum wider- 
wärtig erscheinen, weil sie die Ehe bekämpften und überall Tisch und Bett 
zusammengehören; war doch bereits ihr Liebling Heinse in seinem Ardin- 
ghello zu dem Ideale der Güter= und Weibergemeinschaft gelangt. Wien- 
barg namentlich erging sich gern im Preise der „heiligen Armut“ und 
verdammte die Aristokratie des Reichtums fast noch härter als den Ge- 
burtsadel: „Alle Rosen der Welt werden die Beute eines windigen Ge-
	        
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