Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Vierter Teil. Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. (27)

600 IV. 8. Stille Jahre. 
schlechts von Stockjobbern und bevorrechteten Lakaien.“ Solche Schlag- 
worte der Feuilletons waren freilich nur Pariser Reminiszenzen; sie ver- 
rieten mehr den ästhetischen Widerwillen gegen die Prosa des Bürgertums 
als eine durchgebildete Überzeugung. Zum entschiedenen Sozialismus 
bekannte sich unter den Schriftstellern des Jungen Deutschlands nur einer: 
Georg Büchner. 
Das Verständnis für den Ernst der sozialen Frage war unter den 
Gebildeten noch kaum erwacht; wie ein Träumer wurde der junge Refe- 
rendar Schulze aus Delitzsch von seinen Amtsgenossen in Naumburg an- 
gesehen, wenn er ihnen seine stark sozialistisch gefärbten Ansichten über die 
Zukunft des Arbeiterstandes vortrug. Wer aber in die Tiefen der Lite- 
ratur niederblickte, konnte nicht verkennen, daß es zu Ende ging mit dem 
friedlichen Stilleben der arbeitenden Massen; denn allezeit lassen sich die 
Wandlungen des sozialen Lebens aus den Werken jener kleinen Schrift- 
steller, welche nur die Meinung aller Welt wiedergeben, am sichersten 
erraten. Bisher hatten die Schriftsteller der Leihbibliotheken den Unter- 
schied der Stände wenig beachtet; nur die Mißheirat, der natürliche Lieb- 
ling aller Putzmacherinnen und Ladenfräulein, bot allezeit einen willkom- 
menen Romanstoff. Wie anders jetzt. Nichts harmloser als die beliebten, 
fromm gemütlichen Jugendschriften des Dresdner Schullehrers Gustav 
Nieritz; und doch, welch ein tiefer sozialer Groll verbarg sich darin: die 
armen Steindreher und Spitzenklöpplerinnen des Erzgebirges vertraten 
überall die mißhandelte Tugend, die Edelleute und Fabrikanten das hart- 
herzige Laster, und fast schien es, als ob Reichtum eine Sünde wäre. 
So spiegelte sich das Leben in den Augen der bedrückten kleinen Leute. 
Derber und trotziger redete Adolf Glasbrenner in seinen Flugblättern: 
„Berlin wie es ist — und trinkt“, ein fröhlicher Gesell, dem man gleich 
ansah, daß er wirklich mit Spreewasser getauft war und nicht, wie einst 
Saphir, seine Berliner Witze erkünstelte. Da tauschten der Eckensteher 
Nante, die Droschkenkutscher, die Budiker, die Dienstmädchen ihre Gedanken 
über Welt und Zeit aus; die Politik berührten sie selten, aber allen Wider- 
sprüchen und Lächerlichkeiten des sozialen Lebens gingen sie mit ihren 
scharfen Zungen zu Leibe, dreist, vorlaut, aufgeklärt, immer feste auf die 
Weste, immer in der stolzen Zuversicht, daß der richtige Berliner alles 
macht, was gemacht werden kann. Der Witz ist jederzeit demokratisch, weil 
er alles gleichstellt. Das erstarkende Selbstgefühl der Massen sprach aus 
diesen Berliner Sittenbildern ebenso vernehmlich wie einst aus dem Eulen- 
spiegel und den Grobiansschriften des Zeitalters der Reformation. 
Noch blieb der soziale Friede überall ungestört; nur die Pforzheimer 
Goldarbeiter wagten einmal (1839) wegen Verlängerung der Arbeitszeit 
einen Aufruhr, den die Truppen niederschlagen mußten. Was sich aber 
von langer Hand her vorbereitete, das lehrte die Haltung der deutschen 
Arbeiter im Auslande. Die große Mehrzahl der deutschen Handwerks-
	        
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