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schlechts von Stockjobbern und bevorrechteten Lakaien.“ Solche Schlag-
worte der Feuilletons waren freilich nur Pariser Reminiszenzen; sie ver-
rieten mehr den ästhetischen Widerwillen gegen die Prosa des Bürgertums
als eine durchgebildete Überzeugung. Zum entschiedenen Sozialismus
bekannte sich unter den Schriftstellern des Jungen Deutschlands nur einer:
Georg Büchner.
Das Verständnis für den Ernst der sozialen Frage war unter den
Gebildeten noch kaum erwacht; wie ein Träumer wurde der junge Refe-
rendar Schulze aus Delitzsch von seinen Amtsgenossen in Naumburg an-
gesehen, wenn er ihnen seine stark sozialistisch gefärbten Ansichten über die
Zukunft des Arbeiterstandes vortrug. Wer aber in die Tiefen der Lite-
ratur niederblickte, konnte nicht verkennen, daß es zu Ende ging mit dem
friedlichen Stilleben der arbeitenden Massen; denn allezeit lassen sich die
Wandlungen des sozialen Lebens aus den Werken jener kleinen Schrift-
steller, welche nur die Meinung aller Welt wiedergeben, am sichersten
erraten. Bisher hatten die Schriftsteller der Leihbibliotheken den Unter-
schied der Stände wenig beachtet; nur die Mißheirat, der natürliche Lieb-
ling aller Putzmacherinnen und Ladenfräulein, bot allezeit einen willkom-
menen Romanstoff. Wie anders jetzt. Nichts harmloser als die beliebten,
fromm gemütlichen Jugendschriften des Dresdner Schullehrers Gustav
Nieritz; und doch, welch ein tiefer sozialer Groll verbarg sich darin: die
armen Steindreher und Spitzenklöpplerinnen des Erzgebirges vertraten
überall die mißhandelte Tugend, die Edelleute und Fabrikanten das hart-
herzige Laster, und fast schien es, als ob Reichtum eine Sünde wäre.
So spiegelte sich das Leben in den Augen der bedrückten kleinen Leute.
Derber und trotziger redete Adolf Glasbrenner in seinen Flugblättern:
„Berlin wie es ist — und trinkt“, ein fröhlicher Gesell, dem man gleich
ansah, daß er wirklich mit Spreewasser getauft war und nicht, wie einst
Saphir, seine Berliner Witze erkünstelte. Da tauschten der Eckensteher
Nante, die Droschkenkutscher, die Budiker, die Dienstmädchen ihre Gedanken
über Welt und Zeit aus; die Politik berührten sie selten, aber allen Wider-
sprüchen und Lächerlichkeiten des sozialen Lebens gingen sie mit ihren
scharfen Zungen zu Leibe, dreist, vorlaut, aufgeklärt, immer feste auf die
Weste, immer in der stolzen Zuversicht, daß der richtige Berliner alles
macht, was gemacht werden kann. Der Witz ist jederzeit demokratisch, weil
er alles gleichstellt. Das erstarkende Selbstgefühl der Massen sprach aus
diesen Berliner Sittenbildern ebenso vernehmlich wie einst aus dem Eulen-
spiegel und den Grobiansschriften des Zeitalters der Reformation.
Noch blieb der soziale Friede überall ungestört; nur die Pforzheimer
Goldarbeiter wagten einmal (1839) wegen Verlängerung der Arbeitszeit
einen Aufruhr, den die Truppen niederschlagen mußten. Was sich aber
von langer Hand her vorbereitete, das lehrte die Haltung der deutschen
Arbeiter im Auslande. Die große Mehrzahl der deutschen Handwerks-