54 IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.
ihr, durch einen notwendigen Rückschlag, eine ganz ebenso doktrinäre
radikale Lehre entgegen, welche die Gemeinschaft des Staatensystems zu
zersprengen drohte. In Paris ward dies neue Evangelium der Völker—
freiheit dahin ausgelegt, daß Frankreich befugt sei, jede Einmischung der
Großmächte in die inneren Streitigkeiten anderer Länder mit den Waffen
abzuweisen. Hatten die Ostmächte einst in Troppau sich angemaßt, jede
Revolution in der Welt zu unterdrücken, so erhob jetzt das Julikönig-
tum den noch weit gefährlicheren Anspruch, jeden Aufruhr zu unter-
stützen. Es war der alte Grundsatz der revolutionären Propaganda:
Krieg den Palästen, Friede den Hütten; nur erschien er jetzt nicht mehr
in seiner nackten Roheit, sondern bürgerlich ehrbar, umkleidet mit schönen
Worten vom Selbstbestimmungsrechte aller freien Völker. Lord Palmerston
säumte nicht, sich die Lehre der Nichteinmischung zu nutze zu machen;
kaum am Ruder, verkündigte er sie sofort als sein Glaubensbekenntnis
dem russischen Hofe. Er dachte zu klug, Ludwig Philipp zu furchtsam,
um sich im Ernst durch eine doktrinäre Formel bestimmen zu lassen; jedoch
die Politik der Orleans bedurfte, da sie nur aus der Hand in den Mund
lebte, des Aushängeschildes einer großen Idee, das die nationale Eitelkeit
befriedigte, und der Brite hieß unbedenklich alles willkommen, was den
Unfrieden auf dem Festlande nährte. In Wahrheit sagte der neue Grund-
satz nur, daß die Westmächte sich vorbehielten, nach den Umständen zu
handeln und gegebenen Falles auch die revolutionären Leidenschaften für
ihr Interesse zu verwerten. Talleyrand traf den Nagel auf den Kopf,
als er einer wißbegierigen englischen Dame mit seinem faunischen Lächeln
erwiderte: „Nicht-Intervention ist ein geheimnisvolles diplomatisches
Wort, es bedeutet ungefähr dasselbe wie Intervention.“
Den Ostmächten mußte diese neue Völkerrechtslehre als ein unge-
heuerlicher Frevel erscheinen; denn sie schlug allen Anschauungen des
vergangenen Jahrzehnts ins Gesicht und drohte die so lange behauptete
vormundschaftliche Gewalt der großen Mächte, das ganze alte System
der europäischen Pentarchie zu vernichten. Metternich sagte entrüstet:
„Die Räuber weisen die Polizei zurück, die Brandstifter verwahren sich
gegen die Feuerwehr! Niemals werden wir einen Anspruch anerkennen, der
so jede Ordnung der Gesellschaft zerstört.“ Nüchterner blieb Bernstorff;
er erteilte an Bülow die Weisung, den doktrinären Streit auf der Lon-
doner Konferenz nicht ohne Not anzuregen. Aber auch er fand, „in
dem neu erfundenen Systeme der Nichteinmischung sei der Grundsatz
der anmaßlichsten, übermütigsten und unzulässigsten Einmischung aus-
gesprochen“; und in seinem Auftrage schrieb Ancillon nach Wien: „Gewiß,
durch den Grundsatz der Nichteinmischung und durch den Anspruch, den
Mächten bei Strafe des Krieges jede Truppenbewegung außerhalb ihrer
Grenzen zu untersagen, ginge die Unabhängigkeit und Selbständigkeit jeder
Regierung verloren.“ Zar Nikolaus dagegen brauste in wildem Zorne