Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Vierter Teil. Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. (27)

622 IV. 8. Stille Jahre. 
bedeuteten, nur kurze Zeit im Amte blieben; dann verschwanden sie plötz— 
lich aus rätselhaften Gründen, manche kehrten späterhin wieder in das 
Ministerium zurück. In Berlin hatte man nachgerade verlernt, sich über 
dies Regierungssystem zu verwundern. Ancillon meinte, dergleichen Ent— 
lassungen bedeuteten nach hessischen Verhältnissen gar nichts, und fügte 
die weise Lehre hinzu: blinde Nachgiebigkeit schützt nicht vor der Ungnade 
eines willkürlichen Fürsten. Wie verführerisch mußte in einem solchen 
Lande jener törichte Artikel 100 des Grundgesetzes erscheinen, der die 
Stände verpflichtete, die Minister wegen Verletzung der Verfassung anzu- 
klagen. Die Landstände sahen — so sagte eine ihrer Klageschriften — daß 
Hassenpflug „gegen das lebendige Wirken und die gesetzliche Entwicklung 
der Verfassung unermüdlich ankämpfte.“ Doch so gewiß er den Geist der 
Verfassung zu zerstören suchte, ihren Wortlaut zu verletzen hütete er sich 
klüglich; eine rechtliche Verschuldung ließ sich ihm nicht nachweisen. Gleich- 
wohl verklagte ihn der Landtag viermal vor dem Oberappellationsgerichte; 
die eine der Anklageschriften zählte allein dreizehn angebliche Verfassungs- 
verletzungen auf: das Verfahren gegen Jordan, die Urlaubsverweigerungen, 
die Landtagsauflösungen ohne Landtagsabschied, dazu eine Menge uner- 
heblicher Dinge, sogar die verspätete Einstellung der Rekruten. 
Zum ersten Male seit dem Bestande der neuen Verfassungen unter- 
nahm ein deutscher Landtag die zweischneidige Waffe der Ministeranklage 
zu gebrauchen, und es wurde verhängnisvoll für die Zukunft unseres Par- 
lamentarismus, daß dieser erste Versuch jämmerlich mißlang. Der Tübinger 
Staatsrechtslehrer Robert Mohl übernahm die Verteidigung des Mini- 
sters, den er sicherlich nicht liebte. Mohl hatte sich schon als junger Mann 
durch seinen wissenschaftlichen Freimut die Ungnade des Bundestages zu- 
gezogen und seine konstitutionelle Gesinnung soeben wieder in dem treff- 
lichen Lehrbuche des Württembergischen Staatsrechts bewährt, doch er ver- 
schmähte, den Launen der öffentlichen Meinung zu folgen, und er erkannte, 
daß die deutschen Landtage unbedacht ihr eigenes Ansehen untergruben, 
wenn sie politische Machtfragen und Meinungsverschiedenheiten auf dem 
Rechtswege zu entscheiden suchten. In seiner Verteidigungsschrift sprach 
er sehr scharf wider die Rechtsverdrehungen der Liberalen; er beschwor die 
Richter, „Hessens Verfassung freizuhalten von solchem Widersinn, solcher 
Barbarei und solcher, die Bekleidung jedes höheren Staatsamtes jedem 
unmöglich machenden Auslegung.“ Das Oberappellationsgericht, das zum 
guten Teile aus Liberalen bestand und so oft schon fürstlicher Willkür 
tapfer entgegengetreten war, zeigte diesmal auch nach unten hin eine ehren- 
werte Selbständigkeit. Hassenpflug wurde in allen vier Fällen freige- 
sprochen und veröffentlichte, zur Beschämung des Landtags, sämtliche 
Aktenstücke, die allerdings nur den Juristen, nicht den Politikern seine Un- 
schuld darlegten. Der preußische Hof hielt sich von diesem Streite, wie 
von allen den inneren Zwistigkeiten der kleinen Staaten, behutsam zurück.
	        
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