Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Vierter Teil. Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. (27)

Die große Woche in Warschau. 59 
schlug, jedem Hochverrat einen Freipaß ausstellte. Der Adel frohlockte, 
er war längst gewohnt, alle Staatsverbrecher als Patrioten zu ver- 
herrlichen. Die Krone aber nahm die Verhöhnung ohne Widerstand hin, 
und seitdem führten die Polen mit wachsender Dreistigkeit jenen kleinen 
Krieg gegen die Behörden, dessen Neckereien ihnen ebenso geläufig waren 
wie den geknechteten Völkern Südeuropas; Händel anzufangen mit der 
Obrigkeit und dann den Märtyrer zu spielen gehörte zum guten Tone 
unter den jungen Männern. 
Als nun Lafayette, der alte Waffengefährte Kosciusckos, die geliebte 
Trikolore wieder schwenkte, da wirbelte die Begeisterung hoch auf. In der 
Jugend wurden die Träume der neunziger Jahre, im Heere die napo- 
leonischen Erinnerungen wieder lebendig; niemand in diesen Adelskreisen 
bezweifelte, daß jetzt auch für Polen die Stunde der Befreiung geschlagen 
habe. Sendboten der französischen Radikalen mahnten zu rascher Tat, 
aus Petersburg aber kam das Gerücht, daß Zar Nikolaus gegen Frank- 
reich kämpfen, das polnische Heer als Vorhut voraussenden wolle. Noch 
bestand kein fester Plan für den Aufruhr, jedoch bei der allgemeinen Un- 
treue genügte ein Funke, den Brand zu wecken. Die Entscheidung fiel, 
als eine Handvoll junger Offiziere, Fähnriche, Studenten einen Mord- 
versuch gegen den Statthalter unternahm, dann einige Generale meuch- 
lings niederstieß und den Warschauer Pöbel zu den Waffen rief. Großfürst 
Konstantin verlor Mut und Fassung; er hatte die Polen auf seine 
Weise lieb gewonnen und scheute sich in ihre Händel einzugreifen. „Ich 
und die Meinen, wir wollen rein aus diesen Wirren hervorgehen“ — so 
entschuldigte er seine Schwäche.)) Ohne einen Widerstand zu wagen, zog 
er mit seinen russischen Regimentern heimwärts und überließ das Land 
seinem Schicksale. Das ganze Königreich mitsamt den starken Festungen 
des Weichseltals schloß sich sofort der Sache der Sieger an. Das war 
kein Aufstand mehr. Ein selbständiger Staat mit geordneten Behörden, 
mit vollem Schatze und wohlgerüstetem Heere trat Macht gegen Macht 
dem Zarenreiche gegenüber; nur durch einen Krieg konnte er bezwungen 
werden. 
Inzwischen nahmen die Dinge in Warschau den erkömmlichen 
Verlauf aller polnischen Revolutionen: Kampflust und Opfermut im 
Überschwang, flammende Reden und brüderliche Umarmungen, zeternde 
Priester und hochsinnige schöne Frauen, dazu Punsch und Mazurka, so- 
viel das Herz begehrte, aber daneben auch Parteihaß, Unbotmäßigkeit, 
wütende Anklagen herüber und hinüber, und in diesem Gewoge tapferer 
begeisterter Männer kein einziger staatsmännischer Kopf, kein cinziger 
großer Charakter. Für die Massen des Volks und ihre Leiden hatten 
die Freiheitsredner dieser Adelsverschwörung kein Auge; der Antrag, die 
  
*) Schmidts Bericht, 14. Dezember 1830.
	        
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