Die große Woche in Warschau. 59
schlug, jedem Hochverrat einen Freipaß ausstellte. Der Adel frohlockte,
er war längst gewohnt, alle Staatsverbrecher als Patrioten zu ver-
herrlichen. Die Krone aber nahm die Verhöhnung ohne Widerstand hin,
und seitdem führten die Polen mit wachsender Dreistigkeit jenen kleinen
Krieg gegen die Behörden, dessen Neckereien ihnen ebenso geläufig waren
wie den geknechteten Völkern Südeuropas; Händel anzufangen mit der
Obrigkeit und dann den Märtyrer zu spielen gehörte zum guten Tone
unter den jungen Männern.
Als nun Lafayette, der alte Waffengefährte Kosciusckos, die geliebte
Trikolore wieder schwenkte, da wirbelte die Begeisterung hoch auf. In der
Jugend wurden die Träume der neunziger Jahre, im Heere die napo-
leonischen Erinnerungen wieder lebendig; niemand in diesen Adelskreisen
bezweifelte, daß jetzt auch für Polen die Stunde der Befreiung geschlagen
habe. Sendboten der französischen Radikalen mahnten zu rascher Tat,
aus Petersburg aber kam das Gerücht, daß Zar Nikolaus gegen Frank-
reich kämpfen, das polnische Heer als Vorhut voraussenden wolle. Noch
bestand kein fester Plan für den Aufruhr, jedoch bei der allgemeinen Un-
treue genügte ein Funke, den Brand zu wecken. Die Entscheidung fiel,
als eine Handvoll junger Offiziere, Fähnriche, Studenten einen Mord-
versuch gegen den Statthalter unternahm, dann einige Generale meuch-
lings niederstieß und den Warschauer Pöbel zu den Waffen rief. Großfürst
Konstantin verlor Mut und Fassung; er hatte die Polen auf seine
Weise lieb gewonnen und scheute sich in ihre Händel einzugreifen. „Ich
und die Meinen, wir wollen rein aus diesen Wirren hervorgehen“ — so
entschuldigte er seine Schwäche.)) Ohne einen Widerstand zu wagen, zog
er mit seinen russischen Regimentern heimwärts und überließ das Land
seinem Schicksale. Das ganze Königreich mitsamt den starken Festungen
des Weichseltals schloß sich sofort der Sache der Sieger an. Das war
kein Aufstand mehr. Ein selbständiger Staat mit geordneten Behörden,
mit vollem Schatze und wohlgerüstetem Heere trat Macht gegen Macht
dem Zarenreiche gegenüber; nur durch einen Krieg konnte er bezwungen
werden.
Inzwischen nahmen die Dinge in Warschau den erkömmlichen
Verlauf aller polnischen Revolutionen: Kampflust und Opfermut im
Überschwang, flammende Reden und brüderliche Umarmungen, zeternde
Priester und hochsinnige schöne Frauen, dazu Punsch und Mazurka, so-
viel das Herz begehrte, aber daneben auch Parteihaß, Unbotmäßigkeit,
wütende Anklagen herüber und hinüber, und in diesem Gewoge tapferer
begeisterter Männer kein einziger staatsmännischer Kopf, kein cinziger
großer Charakter. Für die Massen des Volks und ihre Leiden hatten
die Freiheitsredner dieser Adelsverschwörung kein Auge; der Antrag, die
*) Schmidts Bericht, 14. Dezember 1830.