Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Vierter Teil. Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. (27)

666 IV. 9. Der welfische Staatsstreich. 
Meinung wach und zwang die Deutschen, ihre politische Leidenschaft wieder 
dem Vaterlande zuzuwenden. Seit dies Schandmal auf Deutschlands 
eigener Stirn brannte, begann die Presse die Fragen des Bundesrechts 
wieder ernstlich zu erörtern, die früher beliebten weltbürgerlichen Betrach— 
tungen über die Pariser Kammern und die orientalischen Wirren erschienen 
jetzt schal. Leider wurde die dringend nötige Klärung unseres verwor— 
renen Parteilebens durch diesen wohlberechtigten sittlichen Unwillen mehr 
gehemmt als gefördert. Die wilden Brandschriften der Flüchtlinge aus 
Frankreich und der Schweiz mußten jedem Besonnenen zeigen, daß die 
deutsche Opposition längst zwei grundverschiedene Parteien umschloß, die 
auf die Dauer nicht zusammenwirken konnten. Jetzt aber warf eine rein 
menschliche Entrüstung alles, was nicht schlechthin servil war, Radikale, 
Liberale, gemäßigte Konservative wieder in einen Haufen zusammen. Seit 
es auch im Norden konstitutionelle Märtyrer gab, verbreitete sich die 
doktrinäre Überschätzung der Verfassungsformen weithin über Deutschland. 
Dahlmanns politischer Takt empfand dies sogleich. Auf den Festgelagen, 
mit denen man ihn ehrte, betrachtete er ohne Freude die radikalen Feuille- 
tonsschreiber, „mit denen wir doch nur sehr zufällig in dieselbe Gesellschaft 
geraten sind.“ Den Freunden gestand er: ich hoffe bald „die Ahnlich- 
keit mit so vielen, denen ich mich in keiner Weise verwandt fühle, abzu- 
streifen.“ Beides gemeinsam, das Königtum und die bürgerliche Freiheit 
macht den Staat aus, so sagte er in seinem Dankschreiben an Johann 
Jacoby; „der Staat wäre eine ebenso flache und frivole Sache, als er eine 
tiefsinnige und heilige ist, wenn er nicht gerade diese Verbindung von 
Dingen zu leisten hätte, die allein dem oberflächlichen Beobachter unver- 
einbar scheinen.“ Herrliche Worte, nur waren sie leider an eine falsche 
Adresse gerichtet, an einen Radikalen, der sie entweder nicht verstand oder 
als klägliche Halbheit verdammen mußte. Doch wie konnten diese Gegen- 
sätzc sich scheiden, solange ein gemeinsamer, edler Zorn sie zusammen- 
hielt? Dahin war es mit uns gekommen, daß die härtesten und wirk- 
samsten Anklagen gegen die bestehenden Gewalten jetzt von treuen Mon- 
archisten ausgingen. 
Die Vertreibung der Sieben verwirrte und verwischte nicht bloß die 
Parteigegensätze, sie begründete auch die politische Macht des deutschen 
Professorentums, die erst durch den Krieg von 1866 gebrochen werden 
sollte. Als der Streit begann, sagte eine englische Zeitung: In Deutsch- 
land sind die Universitäten auch politische Mittelpunkte, welche dem übrigen 
Lande Impulse geben; die Professoren gelten als Magistrate, beauftragt, 
die Rechte des Volkes so gut wie die Grundsätze der Vernunft zu vertei- 
digen. Das Urteil war verfrüht, denn bisher hatten nur die Hochschulen 
von Jena, Kiel, Freiburg für kurze Zeit eine politische Rolle gespielt, doch 
es sollte sehr bald durch die Tatsachen gerechtfertigt werden. Aus dem 
Göttinger Gewaltstreiche entwickelte sich ein großer Kampf der deutschen
	        
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