Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Vierter Teil. Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. (27)

60 IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede. 
Fronden abzulösen, den Bauern Grundeigentum zu geben, ward vom 
Reichstage verworfen. Eine Zeitlang wiegte man sich noch in dem kind- 
lichen Wahne, der Zar könne durch friedliche Verhandlungen beschwichtigt, 
ja sogar zur Einverleibung von Litauen und Podolien bewogen werden. 
Bald aber errang sich der Radikalismus das Herrenrecht, das ihm bei 
Aufständen gebührt. Adam Czartoryski und sein gemäßigter Anhang 
mußte sich den Geboten Lelewels, Mochnackis und der Jakobinerpartei 
sügen. Am 25. Januar 1831 beschloß der Reichstag die Entthronung 
des Hauses Romanow. 
Die große Woche der Polen ward von der gesamten liberalen Welt 
Europas kaum minder freudig begrüßt, als die Julirevolution selber. 
Der alte Haß gegen die russische Selbstherrschaft, der schon in den ersten 
Friedensjahren sich geregt und erst während des Türkenkrieges sich etwas 
verloren hatte, flammte wieder auf; niemand wollte bemerken, daß der 
römische Klerus in Polen fast ebenso eifrig wie in Belgien die Sache 
des Aufstandes gefördert hatte. Der sarmatische Adel erschien den er- 
hitzten Köpfen wie ein Vorkämpfer der Freiheit. Auch die menschliche 
Teilnahme aller weichen Herzen war ihm sicher, da man dies Volk noch 
überall nach den landläufigen Märchen der französischen Historiker als 
unschuldiges Opfer einer gewissenlosen Kabinettspolitik bemitleidete. Ein 
unbefangenes Geschichtswerk über die Teilungen Polens war noch nicht 
erschienen; selbst Dahlmann wollte in dem selbstverschuldeten Untergange 
der alten Adelsrepublik nichts sehen als den kalt berechneten Volksmord. 
Die Polen teilten mit dem römischen Stuhle das Schicksal, daß die 
ihnen gewidmete Verehrung mit der räumlichen Entfernung wuchs. Ihre 
Nachbarn in den preußischen Grenzlanden wußten wohl, wie tief der 
polnische Bauer unter dem russischen stand; im Westen aber, wo niemand 
je ein polnisches Dorf betreten hatte, hielt man sich an die herkömmlichen 
Begriffe von lateinischer und byzantinischer Kultur, und glaubte treu- 
herzig, diese willenlose, von Junkern, Pfaffen, Juden getretene Masse bilde 
ein starkes Bollwerk gegen die asiatische Barbarei. Die Freiheit der 
Völker und die Gesittung Europas fochten unter den Fahnen des weißen 
Adlers — so lautete das allgemeine Urteil. 
Der Zar aber ließ sich in seinen vermessenen Entwürfen nicht beirren. 
„Die Warschauer Revolution,“ so schrieb Nesselrode stolz nach London, 
„ändert nichts an der Haltung, welche S. Majestät von Anfang an 
gegenüber den allgemeinen Angelegenheiten Europas eingenommen hat.“?) 
Nikolaus verachtete die Polen, wie jeder echte Moskowiter; auf dem Durch- 
marsch, in wenigen Wochen sollte sein unbesiegliches Heer diese Empörer 
zermalmen, um dann hinauszufluten über das rebellische Westeuropa. 
Auch Diebitsch beharrte in seiner Verblendung. Der meinte selbstzufrie- 
  
*) Nesselrode an Lieven, 4. Dezember (a. St.) 1830.
	        
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