Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Vierter Teil. Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. (27)

674 IV. 9. Der welfische Staatsstreich. 
Ratschlag durfte er nicht erteilen, weil man in Berlin den Eigensinn 
Ernst Augusts kannte. So ward er dem Welfen nur immer unangenehmer; 
„dies“, meinte der badische Gesandte, „begegnet jedem, der Sr. Majestät 
Vernunft redet.“*) 
Und wie unmöglich blieb es doch, von einem Fürsten, dessen ganze 
Haltung man verdammen mußte, Mäßigung im offenbaren Unrecht zu 
verlangen. Auch für Ernst August galten die schönen Worte, welche 
Dahlmann der Opposition zurief: „Alle Mäßigung beruht auf der nicht 
vollen Anwendung einer Kraft, die man ohne Rechtsverletzung auch ganz 
gebrauchen dürfte. Sobald man die Kraft der Landesverfassungen schließlich 
in bloße Redensarten auflöst, verliert die Rede von Mäßigung ihren 
Sinn.“ An den kleinen Höfen war die Bestürzung allgemein. Sogar der 
holsteinische Gesandte Pechlin, der eifrigste Reaktionär des Bundestags, 
beschwor den Welfen, mit seinem Landtage schleunigst abzuschließen, sonst 
könne der Bund nicht länger schweigen.) Von allen Fürsten Europas 
lobten nur zwei den Staatsstreich: der Kurprinz von Hessen, der seelen- 
vergnügt zu Canitz sagte: „jetzt will ich meine Verfassung auch ändern,“ 
aber von dem Preußen sogleich zur Ruhe verwiesen wurde ?) — und 
Kaiser Nikolaus. Der Zar traf mit Ernst August im Sommer 1838 
auf den preußischen Manövern zusammen und überhäufte ihn mit Dank- 
sagungen. Wirklichen Einfluß gewann auch er nicht; wer hätte den alten 
Herrn in seinem unermeßlichen Welfendünkel stören können? 
Nun war der Handel trotz allen Verzögerungen doch noch vor den 
Bundestag gelangt, und über die Rechtsfrage konnten ehrliche Männer 
kaum streiten. Daß die Verfassung von 1833 in anerkannter Wirksamkeit 
bestanden hatte, ließ sich nicht leugnen; folglich war der Bund nach Art. 56 
der Schlußakte verpflichtet, sie zu schützen. Wie nachdrücklich hatte die 
preußische Regierung einst gegen Karl von Braunschweig den Satz ver- 
fochten, daß der Thronfolger an die rechtmäßigen Handlungen des Vor- 
gängers gebunden sei. Durfte sie sich jetzt selber ins Gesicht schlagen? 
Staatsrechtlich betrachtet, war Ernst August weit schuldiger als Karl; er 
hatte den Staatsstreich, welchen dieser nur plante, wirklich vollführt, und 
auch die menschliche Niedertracht des welterfahrenen alten Parlamentariers 
wog schwerer als die halbnärrischen Bubenstreiche seines Neffen. Dennoch 
schwankte König Friedrich Wilhelm. Er wollte seinen Schwager nicht 
eigentlich unterstützen — das erlaubte sein Gewissen nicht — aber um 
jeden Preis schonen, und Minister Werther fand, trotz seiner besseren Ein- 
sicht, nicht den Mut, geradeswegs zu widersprechen. 
Unzweifelhaft wirkten bei dem verhängnisvollen Entschlusse des 
Königs persönliche Rücksichten mit. Er liebte den Welfen wenig, doch seine 
*) Frankenbergs Bericht, 28. Aug. 1838. 
**) Canitz' Bericht, 2. Aug. 1838. 
*“#) Canitz' Bericht, 23. Juli 1838. 
 
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.