88 IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.
des Stromes wieder südostwärts gegen Warschau vorzurücken. Nun erst
ward offenkundig, was Preußens Freundschaft für Rußland bedeutete; ohne
die Mitwirkung der Nachbarmacht konnte der Plan nicht gelingen. Der
König gestattete, daß auf der preußischen Weichsel die Kähne und was
sonst noch für den Brückenbau der Russen nötig war, herbeigeschafft
wurden; er ließ an der Grenze entlang Märkte anlegen, mit Vorräten
jeder Art für die russischen Einkäufer, und obwohl der Oberpräsident
Schön gleich der Mehrzahl seiner liberalen Beamten die Russen verab-
scheute, so wurden doch die erhaltenen Befehle mit altpreußischer Pünkt-
lichkeit ausgeführt. Im Juli schloß General Valentini mit dem Russen
Mansurow einen Vertrag, kraft dessen Preußen sich bereit erklärte, die nach
Deutschland übertretenden Polen zu entwaffnen und, gegen eine verein-
barte Entschädigung, vorläufig zu verpflegen; so sollte zugleich unnützes
Blutvergießen verhindert und die Unterdrückung des Aufstandes be-
schleunigt werden.') Im Bewußtsein seines guten Rechtes verfuhr der
König mit der größten Offenheit. Auf die wiederholten Vorstellungen
der Westmächte ließ er rundweg erwidern: er werde die polnischen Em-
pörer nimmer als eine kriegführende Macht anerkennen; von Pflichten
der Neutralität könne gar nicht die Rede sein bei einem Aufruhr, der
Preußens eigene Sicherheit bedrohe.
Zu Diebitschs Nachfolger wurde der Held des letzten kleinasiatischen
Feldzugs Paskiewitsch ernannt — ein echter Moskowiter, erschreckend roh,
hart, hochmütig, als Feldherr zäh ausdauernd, doch überaus vorsichtig.
Er durfte ernten, was andere gesäet. Durch die nahe preußische Grenze
in seiner rechten Flanke gedeckt, überschritt er die Weichsel bei Ossiek,
wenige Stunden oberhalb von Thorn (17. Juli) und zog dann, da die
Cholera im Erlöschen war, mit seinen gesunden, durch die preußischen
Zufuhren wohlversorgten Truppen langsam der Hauptstadt entgegen,
während die Polen schon durch Diebitschs Siege den Kern ihres Heeres
verloren hatten und der beständige Wechsel im Oberbefehle ihre zu-
nehmende Ratlosigkeit bekundete. Er hoffte die Unterwerfung ohne
Schlacht zu erzwingen und vermied den Kampf, trotz der Mahnungen
Tolls, auch als er die Polen bei Bolimow in einer ganz unhaltbaren
Stellung antraf. Noch am 4. September ließ er, endlich vor Warschau
angelangt, den Aufständischen überraschend günstige Bedingungen anbieten:
eine wenig beschränkte Amnestie, Wiederherstellung der Verfassung, Abzug
der russischen Garnisonen, ja die polnischen Offiziere sollten sogar ihre
im Kampfe gegen Rußland erworbenen neuen Grade behalten! So tief
war der Hochmut des Zaren durch diesen langen Krieg gebeugt. In
dem unglücklichen Warschau aber hatte der wilde Radikalismus soeben
durch einen gräßlichen Aufruhr des Pöbels die Herrschaft wieder an sich
2) Schölers Bericht, 20. Okt. 1831.