226 IV. Württemberg als Königreich.
Kerner war eine echte, gemüthvolle Schwabennatur; in seinem Hause
wurde die ausgedehnteste Gastfreundschaft geübt. Die meisten Dichter dieses Jahr-
hunderts sind seine Gäste gewesen. Obgleich ein inniger Freund Uhlands hat
sich Kerner doch nicht an den Bewegungen des öffentlichen Lebens betheiligt, da
ihn sein Gemüths= und Geistesleben mehr zu der Betrachtung der Geisterwelt
hinzog.
Als Dichter ist Kerner eine durchaus lyrische Natur, die sich ganz in
dem Bereiche des Gefühls bewegt. Die Darstellung ist kräftig und schon dadurch
wirksam, weil sich ein entschledener Charakter darin ausspricht. Seine Sprache
ist sicher, kernig, dem Gegenstande angemessen, oft aber auch hart, schwerfälllg und
nachläßig. Kerner betrachtet nämlich die Poesie nicht als Kunst, sondern nur
als Naturgabe, gleich dem Träumen und Gelstersehen 1). In seinen Gedichten
sprudelt der heiterste Humor, der wieder mit tiefer Schwermuth. und der steten
Mahnung an den Tod wechselt. Er ist erfüllt von füßer Zärtlichkeit für alles,
was er liebt, und von Wehmuth über die Flucht der Zeit, über die Vergänglich-
keit der Menschen und aller Dinge („der Wanderer in der Sägmühle"). Beson-
ders rührend sind die Lieder, welche er seiner Frau gewidmet hat, z. B. „An
ihre Hand im Alter“. Unter seinen Balladen sind „der Geiger von Gmünd",
„bie vier wahnsinnigen Brüder“", „die heilige Reglswind von Lauffen, „der
reichste Fürst“ u. a. m. zu nennen.
Gustav Schwab (geb. 1792 zu Stuttgart, gest. 1850 daselbst) studirte
Philologle und Theologie in Tübingen, wurde Repetent am dortigen Stift, 1817
Professor am Obergymnasium in Stuttgart, 1837 Pfarrer in Gomaringen,
1841 Stadtpfarrer zu St. Leonhard und Amtsdekan in Stuttgart, später Ober-
konsistorialrath.
Wir finden in Schwab die innige Verbindung von klassischer, christlicher
und deutscher Bildung. Als ein Muster deutschen Fleißes und deutscher Gelehr-
samkeit nahm er an verschiedenen Redaktionen durch Uebersetzungen griechischer
und römischer Prosalker und Dichter, durch Recenstionen und Kritiken theil, zumal
er seine pekuniäre Stellung durch literarischen Erwerb verbessern mußte. — Von
einem Kultus des Genius wollte er nichts wissen. Gödeke sagt von ihm: „Eine
freie Geistesbildung auf humanistischer Grundlage ließ ihn die Poeste als eine
allgemein menschliche Gabe auffassen, die nur durch die Frömmigkelt der indioi-
duellen Dichternatur bestimmt, nicht für Erzeugung von Frömmigkelt bei andern
oder als Ausdruck einer festgegliederten Gemeinschaft verwendet werden dürfe“.
1) Er gesteht auch in seinem Gedichte „die schwäbischen Sänger“ ganz aufrichtig:
„Da singt ein jeder seine Weis'
Nach seinem eignen Schnabel;
Ob Nachtigall, ob Fink er heiß,
Wenn schön nicht, doch passabel.
Die Wachtel bleibt beim Wachtelschlag,
Fink nicht wie Lerche singen mag.
So ist's im schwäb'schen Dichterhain.
Preis, Sänger dir von Thule!
Doch hör' es unterm Leichenstein:
Bei uns gilt keine Schule:
Mit eignem Schnabel jeder singt,
Was halt ihm aus dem Herzen dringt.“