Die Landesverräter
Berlin, 28. Mai
Das böse Gewissen steht drohend mitten im Saale.
Eine allgemeine Unruhe packt Gerechte und Ungerechte,
alle sind reizbar, und schließlich kommt es zu Ausbrüchen
der Hysterie. Manchmal glaubt man, nicht in der Preußischen
Landesversammlung zu sein, sondern in einer „Odipus“-
Aufführung bei Reinhardt: hundert Arme fahren empor,
es wogt von fiebernden Händen. Ein Volksgericht über das
Zentrum. Nur über das Zentrum? Unter den Richtern, die
die verdammenden Scherben zum Berge türmen, ist manch
einer, dem ähnliche Gedankengänge nicht immer fernlagen,
wie sie jetzt bei den Kuckhoff und Kastert und dem Pater
Froberger zur Tat werden, die das Rheinland samt Nassau,
Pfalz und Rheinhessen „selbständig“ machen wollen. Bei-
leibe nicht französisch; nur selbständig, — genau so selbständig,
wie der alte Rheinbund von Napoleons Gnaden es war.
Unter den Richtern aber, sage ich, gibt es manchen, der an-
derswo ahnliche Möglichkeiten herbeisehnt. Geht nicht der
Gedanke einer von Berlin freien Union der Ostmarken auch
im Lande um? Hatte nicht der Freistaat Braunschweig schon
einmal seine diplomatischen Beziehungen zum Reiche ab-
gebrochen? Hat nicht ein Welfe erst dieser Tage in der
Landesversammlung erklärt, man werde die Preußenfahne
in Hannover niederholen? Heute nennen sämtliche Parteion
mit Ausnahme des Zentrums in ihren förmlichen Anfragen,
die sich auf die rheinische Sonderrepublik beziehen, deren
Errichtung einen Landesverrat. Und doch hat auch manche
andere Partei kein reines Gewissen. Das „Rette sich, wer
kann!“ ist bei einem allgemeinen Zusammenbruch ansteckend
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