Full text: Vorgeschichte des Waffenstillstandes.

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1. Läßt die innere Lage zu, daß sämtliche Truppen vom Osten nach dem Westen 
gebracht werden oder besteht die Gefahr, daß der Bolschewismus ins Land kommt 
« 2. Wird das deutsche Volk, nicht nur die Kreise der Gebildeten, sondern in 
seinen breiten Massen in den Kampf bis zum äußersten mitgehen, wenn es das Bewußt- 
sein hat, daß sich dann unsere militärische Lage genügend verstärkt, um das Eindringen 
der Feinde über die Landesgrenze zu verhindern, oder ist die moralische Widerstands- 
kraft so erschöpft, daß diese Frage nicht unbedingt bejaht werden kann? Dabei handele 
xcs sich nicht um Zwang, sondern um freien Willen. 
Solf bezeichnet das Telegramm der Obersten Heeresleitung, das diese Fragen 
stelte, als ein außerordentlich gefährliches Dokument. Iwischen den Zeilen liege mehr 
als ein Appell an das deutsche Volk, sich zusammenzuraffen, nämlich der Versuch, die Ver- 
antwortlichkeit zu verschieben. Warum sei denn die Stimmung so gedrückt? Weil die 
militärische Macht zusammengebrochen sel. Jetzt aber sage man: die militärische Macht 
wird zusammenbrechen, wenn die Stimmung nicht durchhält. Diese Verschiebung dürfe 
man nicht zulassen; sie paßt schlecht zu den eigenen Worten des Generals Ludendorff, 
der mit dem Kriegsminister einig gewesen sei, daß eine leyée en masse nicht möglich ist. 
Sehr prekär sei auch die zweite Frage, ob man die Truppen auf Gefahr des Bolsche- 
wismus vom Osten wegziehen könne. Laute die Antwort nein, so werde die Oberste 
Heeresleitung behaupten, sie hätte die militärische Lage mit den Verstärkungen halten 
können. Glaube sice wirklich, daß die geringen Truppen im Osten das Krästeverhältnis 
ändern könnten" Man müsse den Generalfeldmarschall bitten, solche Telegramme nicht 
mehr hierher zu schicken. 
Scheidemann: Die Frage muß mit General Ludendorff auf das eingehendste be- 
sprochen werden. Auch ich meine, daß hier der Tatbestand verschoben werden soll. Das 
Telegramm der Obersten Heeresleitung sei allerdings vor Bekanntwerden der Antwort 
Wilsons abgegangen. Jetzt biete die Empörung der ösfentlichen Meinung ihm schein- 
bar einen Rückhalt. Dies sei auch erklärlich, das dürfe uns aber nicht irre machen, wir 
müßten versuchen, uns an die Stelle der Gegner zu versetzen und den Tatbestand ob- 
jektiv zu würdigen. 
Sehr wichtig für den Ton der Antwort seien die Verwüstungen und Plün- 
derungen. 
Dazu komme das schreckliche Unglück mit dem Passagierdampser, bei dem 600 
Massagiere, darunter sehr viele Frauen und Kinder, umgekommen seien. Das wirke 
furchtbar aufreizend. Der U--Bootkrieg sollte sogleich aufhören; die paar Schiffe die 
man noch versenke, kämen nicht mehr in Betracht. 
Auch mit der Amnestie solle man entschiedener vorgehen. Alle seien einig ge- 
wesen, daß sie Liebknecht zugute kommen sollte, nur Unterstaatssekretär 4 
habe diesen Beschluß zu Falle gebracht. Dieser Mangel an Weitblick führe dazu, daß 
man keine Konzessionen mit großer Geste mache, wenn es Zeit sei, sondern verspätet 
unter Druck und ohne Wirkung auf die Stimmung. 
Die Stimmung wäre jetzt noch durch den Brief des Kaisers vergiftet, den die 
Iswestija veröffentlicht habe. Der Brief stamme zwar aus dem Jahre 1895, seine An- 
griffe auf die Reichstagsparteien wirkten aber deshalb nicht weniger stark. Glaube man 
wirklich, daß die Neigung im Volke noch groß sei, einen Finger krumm zu machen, um 
den Kaiser zu halten? Das Volk sei sich jetzt der Lage bewußt. Es gäbe ein Unglück, 
wenn man jetzt noch Rücksicht nehmen wollte. Am wenigsten auf Unterstaatssekretärc.
	        
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