Full text: Kaiser Wilhelm II. Aus meinem Leben 1859-1888.

seiner kurzen Regierung nach langer Wartezeit, als der edle Dulder 
in schwerem Leiden, das ihn vorzeitig dahinraffte. 
Soweit ich zurückdenken kann, war er leidenschaftlich für die 
deutsche Idee, für die Schaffung eines neuen deutschen Kaiserreichs 
entflammt und begeistert. Es bedeutete immer eine besondere Aus— 
zeichnung für mich kleinen Jungen, wenn mein Vater mir erlaubte, 
das schöne Prachtwerk von Bock über die Kleinodien des Heiligen 
Römischen Reiches Deutscher Nation anzusehen. Wegen seines großen 
Umfanges mußte ich es auf den Fußboden legen, ich konnte mich 
an den Abbildungen, die mein Vater, neben mir hingehockt, mir zu 
erklären pflegte, nicht sattsehen. Als dann die Erfüllung seines Sehnens 
im großen Jahre 1870 näherrückte, ließ er von Graf Stillfried, 
Graf Harrach und Graf Seckendorff Entwürfe für die Insignien 
des neuen Reiches herstellen. Von denen des Oberzeremonienmeisters 
hielt mein Vater nichts, während er die Aquarell-Entwürfe der beiden 
anderen Herren im Durchgangsraum zu seinem Arbeitszimmer im 
Kronprinzenpalais aufhängen ließ, unter die von Seckendorff ent- 
worfene Krone hatte er „nicht genehmigt“, unter die Harrachs, die be- 
zeschnenderweise der mittelalterlichen am nächsten kam, „richtig“ ge- 
schrieben. Denn mein Bater sah das neue deutsche Reich als eine 
Vortsetzung des mittelalterlichen, den Kaiser als einen Nachfolger 
Karls des Großen an, die im folgenden erwähnte Episode mit dem 
Goslarer Thronsessel bei der Eröffnung des ersten Reichstags und die 
von ihm ursprünglich beabsichtigte Wahl des Kaisertitels als Fried- 
rich IV. sowie seine Bemühungen, die Uberführung der alten Reichs- 
kleinodlen aus Wien nach Deutschland (Nürnberg) zu veranlassen, sind 
weitere Belege für diese etwas romantische Anschauung. Das neue 
Katsertum hat bekanntlich eigene Insignien nicht besessen, es mußten 
die preußischen benutzt werden. 
Auch über diese Lfebhabereien hinaus besaß mein Bater tiefe 
histortsche Neigungen, vornehmlich für die Geschichte unseres Hauses. 
6
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.