6 Auswärtige Politik. I. Buch.
Mitte der neunziger Jahre sagte mir in Rom, wo ich damals Botschafter war, mit
einem Seufzer mein englischer Kollege, Sir Clare Ford: „Wie viel gemütlicher und be-
quemer war es doch in der Politik, als England, Frankreich und Rußland den europäischen
Areopag bildeten, und höchstens gelegentlich Osterreich herangezogen zu werden brauchte.“
Oiese gute alte Zeit ist vorüber. Der hohe Rat Europas ist vor mehr als vier Jahr-
zehnten um ein stimmberechtigtes Mitglied vermehrt worden, das nicht nur den Willen
bat mitzureden, sondern auch die Kraft mitzuhandeln.
Ein Stück harter, weltgeschicht-
licher Arbeit hattee mit dem Meister-
werk des Fürsten Bismarck seine Vollendung erhalten. Dem zielbewußten Willen der
Hohenzollern mußten durch Jahrhunderte der ausdauernde Heroismus der preußischen
Armee und die nie erschütterte Hingebung des preußischen Volkes zur Seite stehen,
bis unter wechselvollen Schicksalen die brandenburgische Mark zur preußischen Groß-
macht wurde. Zweimal schien der schon gewonnene Kranz dem Staate Preußens wieder
zu entgleiten. Die vernichtende Niederlage von 1806 stürzte Preußen von der bewun-
derten und gefürchteten Höhe friderizianischen Ruhmes jäh hinab. Diejenigen schienen
recht zu bekommen, die in dem stolzen Staat des großen Königs nie mehr als ein künst-
liches politisches Gebilde hatten sehen wollen, das stand und fiel mit dem einzigartigen
staatsmännischen und kriegerischen Genie des Monarchen. Die Erhebung nach dem
tiefen Sturz von Zena und Tilsit bewies der staunenden Welt, welche urwüchsige und
unzerstörbare Kraft in diesem Staate lebte. Solcher Opferwillen und solcher Helden-
mut eines ganzen Volkes setzten eingewurzeltes nationales Selbstbewußtsein voraus.
Und als das Volk Preußens sich nicht in regellosem Aufstande, gleich den vielbewunderten
Spaniern und den wackeren Tproler Bauern erhob, sondern sich Mann für Mann gleich-
sam selbstverständlich dem Befehl des Königs und seiner Berater unterstellte, da sah
man staunend, wie Nationalbewußtsein und Staatsbewußtsein in Preußen eins waren,
daß das Volk durch die harte Schule des friderizianischen Staates zur Nation erzogen
worden war. ODie Reorganisation des staatlichen Lebens unter der Leitung schöpferischer
Männer in der Zeit von 1807 bis 1813 gewann dem Staate zum Gehorsam die bewußte
Liebe der Untertanen. Der Befreiungskampf von 1813 bis 1815 erwarb Preußen die
Achtung aller und das Vertrauen vieler nichtpreußischer Deutschen. Es war ein reiches
Erbe, das die große Zeit der Erhebung und Befreiung hinterließ. Aber unter der Rück-
wirkung einer matten und glanzlosen äußeren Politik und durch eine Geschäftsführung
im Innern, die weder im richtigen Augenblick zu geben noch zu weigern verstand, wurde
dieses Erbe während der nächsten Zahrzehnte zum guten Teil wieder verwirtschaftet.
Gegen Ende der fünfziger Jahre des 19. Jahrhunderts stand Preußen an innmerer Hal-
tung und an äußerer Geltung zurück hinter dem Preußen, wie es aus den Freiheits-
kriegen hervorgegangen war. Wohl hatte die nationale Einheitsbewegung durch die
preußische Zollpolitik das erste feste Fundament erhalten. Aber der Tag von Olmütz
hberstörte die Hoffnung der deutschen Patrioten, die von Preußen die Erfüllung der
nationalen Wünsche erwarteten. Preußen schien auf seine weltgeschichtliche Mission
Staatliche Wiedergeburt Deutschlands.
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