. Buch. III. Wirtschaftspolitik. 107
kritischen Zeiten der Industrie wenigstens einen Teil der Produktion abnehmen, der im
Auslande nicht abzusetzen ist. Das alte Wort: „Hat der Bauer Geld, hat's die ganze
Welt“ wird vollinhaltlich wahr, sobald die Industrie mehr als in ruhigen Friedenszeiten
darauf angewiesen ist, ihre Kunden im Vaterland zu suchen.
Eine Porlitik, die nur den Forderungen, Stimmungen und Chancen des Augenblickes
dient, die nur tut, was im Moment am leichtesten getan werden kann, die nur ad hoc
arbeitet, ohne Rücksicht auf die künftigen Folgen, ist keine Staatskunst. Alle künftigen
Möglichkeiten kann auch die besonnenste Politik nicht in ihre Rechnung ziehen. Aber jede
unserer Handlungen, jede Entschließung ist Ursache künftiger Wirkungen, und es darf
mit Recht vom Politiker gefordert werden, daß er imstande ist, einen Teil der möglichen
Wirkungen vorherzusehen. Vor allem aber gibt es gewisse Eventualitäten, die voraus-
gesetzt werden müssen, weil sie Vorgänge sind, die sich stets in der Geschichte in größeren
oder Ueineren Zwischenräumen wiederholt haben, Ereignisse, die zum eisernen Bestande
der Weltgeschichte gehören. Ein solches Ereignis, das in jede staatsmänmische Berechnung
einbezogen werden muß, ist der Krieg. Kein Verständiger wünscht ihn. Jede gewissen-
hafte Regierung sucht ihn mit allen Kräften zu verhindern, solange es Ehre und Lebens-
interessen der Nation erlauben. Aber jedes Staatswesen muß in allen seinen Teilen so
geleitet werden, als ob es morgen einen Krieg auszuhalten hätte. Das gilt auch für die
Führung der Wirtschaftspolitik.
Bedeutung der Landwirt- Gerade im wirtschaftlichen Leben neigen wir, ver-
schaft im Kriege. führt durch eine lange, segensreiche Friedenszeit,
mehr als uns gut ist, dazu, uns einzurichten, als
müsse dieser Frieden ewig währen. Auch wenn uns in den letzten Zahrzehnten die Kriegs-
gefahr nicht bisweilen nahe berührt hätte, müssen wir wissen, daß es einen ewigen Frieden
nicht gibt und uns das Wort Moltkes gegenwärtig halten: „Der ewige Frieden ist ein
Traum, und nicht einmal ein schöner. Der Krieg aber ist ein Glied in Gottes Welt-
orbnung.“ Es gibt keinen Teil des öffentlichen und privaten Lebens, der vom Kriege
unberührt bleibt. N#rgends aber sind die Wirkungen des Krieges unmittelbarer, tief-
greifender als im wirtschaftlichen Leben. Die Folgen eines Krieges, sei er ein glücklicher
oder ein unglücklicher, stellen die Folgen jeder, auch der schwersten wirtschaftlichen Krisis
in Schatten. Die Wirtschaftspolitik soll der friedlichen Entwicklung dienen, aber sie
muß sich die Möglichkeit einer kriegerischen Verwicklung vor Augen halten und nicht
zuletzt aus diesem Grunde im besten Sinme agrarisch sein.
Wie im Kriegsfalle die Industrie auf die Kaufkraft der Landwirtschaft angewiesen
ist, so ist die Leistungsfähigkeit der Landwirtschaft eine Existenzfrage für die ganze Nation.
Diejenigen Parteien und wirtschaftlichen Interessengruppen, die von der Regierung
verlangen, sie solle die landwirtschaftlichen Erzeugnisse des Auslandes, in erster Linie die
wichtigsten, Getreide und Fleisch, mit einem möglichst geringen Zoll belasten, oder gar
zollfrei einlassen, damit die Lebensmittelpreise unter dem Druck der ausländischen Kon-
kurrenz niedrig gehalten, und die privaten Haushaltungen der Industriearbeiter nach
Möglichkeit entlastet werden, wollen die Wirtschaftspolitik nach einem imaginären
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