I. Buch. Auswärtige Politik. 9
schreiben lassen von der Ungeduld des Ehrgeizes, sondern von den Interessen und KRechten,
die wir zu fördern und zu behaupten hatten. Wir sind nicht in die Weltpolitik hinein-
gesprungen, wir sind in unsere weltpolitischen Aufgaben hineingewachsen, und wir haben
nicht die alte europäische Politik Preußen-Oeutschlands gegen die neue Weltpolitik
ausgetauscht, sondern wir ruhen heute noch wie vor alters mit den starken Wurzeln
unserer Kraft im alten Europa.
„Die Aufgabe unserer Generation ist es, gleichzeitig unsere kontinentale Stellung,
welche die Grundlage unserer Weltstellung ist, zu wahren und unsere überseeischen
Interessen so zu pflegen, eine besonnene, vernünftige, sich weise beschränkende Weltpolitik
so zu führen, daß die Sicherheit des deutschen Volkes nicht gefährdet und die Zukunft
der Nation nicht beeinträchtigt wird.“ Mit diesen Worten suchte ich am 14. November
1906 gegen Ende einer ausführlicheren Darstellung der internationalen Lage die Auf-
gabe zu formulieren, die Deutschland gegenwärtig und nach menschlichem Ermessen
auch in Zukunft zu erfüllen hat: Weltpolitik auf der festen Basis unserer europäischen
Großmachtstellung. Anfangs wurden wohl Stimmen laut, die das Beschreiten der
neuen weltpolitischen Wege als ein Abirren von den bewährten Bahnen der Bismarckischen
Kontinentalpolitik tadelten. Man übersah, daß gerade Bismarck uns neue Wege dadurch
wies, daß er die alten zu ihren Zielen geführt hatte. Seine Arbeit hat uns die Tore
der Weltpolitik recht eigentlich geöffnet. Erst nach der staatlichen Einigung und der
politischen Erstarkung Deutschlands war die Entwicklung der deutschen Volkswirtschaft
zur Weltwirtschaft möglich. Erst nachdem das Reich seine Stellung in Europa ge-
sichert sah, konnte es daran denken, für die Interessen einzutreten, die deutsche Unter-
nehmungslust, deutscher Gewerbefleiß und kaufmännischer Wagemut in aller Herren
Länder geschaffen hatten. Gewiß sah Bismarck den Verlauf dieser neuen deutschen Ent-
wicklung, die Aufgaben dieser neuen Zeit nicht im einzelnen voraus und konnte sie nicht
voraussehen. In dem reichen Schatz politischer Erkenntnisse, die Fürst Bismarck uns hinter-
lassen hat, finden sich für unsere weltpolitischen Aufgaben nirgends die allgemeingültigen
Sätze, wie er sie für eine große Zahl von Möglichkeiten unseres nationalen Lebens ge-
prägt hat. Vergebens suchen wir in den Entschlüssen seiner praktischen Politik nach einer
Kechtfertigung für die Entschließungen, die unsere weltpolitischen Aufgaben von uns
fordern. Wohl wurde auch diese neue andere Zeit von Bismarck vorbereitet. Nie
dürfen wir vergessen, daß wir ohne die gigantische Leistung des Fürsten Bismarck, der
mit einem mächtigen Ruck in Jahren nachholte, was in Jahrhunderten vertan und ver-
säumt worden war, die neue Zeit nicht hätten erleben können. Wenn aber auch jede
neue Epoche geschichtlicher Entwicklung durch die vorhergehende bedingt ist, ihre trei-
benden Kräfte mehr oder minder stark der Vergangenheit dankt, so kann sie doch nur
einen Fortschritt bringen, wenn sie die alten Wege und Ziele hinter sich läßt und zu
anderen eigenen dringt. Entfernen wir uns auf unseren neuen weltpolitischen Bahnen
auch von der europäischen Politik des ersten Kanzlers, so bleibt es doch wahr, daß die
weltpolitischen Lufgaben des 20. Jahrhunderts die rechte Fortführung sind der kontinental-
politischen Aufgaben, die er erfüllt hat. In jener Rede vom 14. November 1906 wies ich
darauf hin, daß die Nachfolge Bismarcks nicht eine Nachahmung, sondern eine Fort-
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