Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Erster Band. (1)

  
58 Die Selbstverwaltung. II. Buch. 
  
rechter Weise nicht in Abrede gestellt werden. Die bisher im allgemeinen mit ihnen ge- 
machten Erfahrungen, selbst in den verhältnismäßig wenigen, durch bestehende gesetz- 
liche Sondervorschriften erklärlichen Fällen, wo ihr Einfluß bereits mehr oder minder 
ausschlaggebend geworden ist, lassen jedenfalls die gelegentlich wohl zu hörende trübe 
Befürchtung allmählichen „völligen Scheiterns der Selbstverwaltung“ an solcher Mit- 
wirkung als nicht berechtigt erscheinen. Ihr Gedanke des Zusammenwirkens vieler, 
wenn auch noch so verschieden Gerichteter, an den unmittelbaren, täglich notwendigen 
Dingen des gemeinsamen Lebens ist ein viel zu gesunder, als daß man nicht mit dem 
Freiherrn vom Stein aus der Benutzung auch der „falsch geleiteten Kräfte“ das Erwachen 
rechten Gemeingeistes und Bürgersinnes und damit Rutzen und Förderung für die Ge- 
samtheit erwarten dürfte. 
Andere, vielleicht schwierigere organi- 
satorische Fragen haben sich für die 
Selbstverwaltung aus dem stetigen 
Wachsen ihrer Aufgaben, sowie vor allem aus der immer häufiger werdenden 
Erstreckung der tatsächlichen Einwirkung eines Selbstrerwaltungskörpers auf 
das Verwaltungsgebiet eines benachbarten anderen ergeben. 
Unter dem Einfluß der großen Errungenschaften auf dem Gebiete der Natur- 
wissenschaften und Technik, der vermehrten Erkenntnis sozialer Mißstände, der ihr 
Kechnung tragenden Reichs- und Landesgesetzgebung, nicht zuletzt auch der bei steigen- 
dem Wohlstande fortgesetzt steigenden Ansprüche aller Bevölkerungsschichten, haben 
die letzten zweieinhalb Jahrzehnte eine Vermehrung wie auch Vertiefung der Selbstver- 
waltung mit sich gebracht, wie kaum je zuvor. Ja, es kann geradezu von einem wett- 
eifernden Drängen der öffentlichen Meinung auf die UÜbernahme immer neuer, auch 
bisher mehr oder weniger nur privater Tätigkeit überlassener Geschäftsgebiete durch 
die Selbstverwaltung gesprochen werden. 
Wachsen der Aufgaben der Selbst- 
verwaltung und Interessengegensätze. 
  
  
Armen-, Kranken- und Eir kurzes Eingehen auf die Wandelungen, die einige der 
Wohlfahrtspflege. wichtigsten der Verwaltungszweige unter solchen Ein- 
flüssen erfahren haben, wird den Gang wie die Folgen 
solcher Entwickelung am besten zu erläutern vermögen. Wenn sich zum Beispiel die Armen- 
und Krankenpflege früher im wesentlichen auf die möglichste Beseitigung der Tatsache 
der Armut und Krankheit richtete, so hat sie sich mit dem Ausgang des 19. Jahrhunderts 
daneben auch vor allem vorbeugende Maßregeln aller Art zur tunlichsten Ver- 
hütung wirtschaftlicher und körperlicher Not zum Ziele gesetzt. Dazu galt es einer- 
seits, überall möglichst persönliche Fühlung mit den Hilfsbedürftigen, sei es durch ehrenamt- 
liche Armen- und Waisen-Pfleger und -Pflegerinnen, sei es durch Fühlungnahme mit welt- 
lichen, oder religiösen Wohltätigkeitsorganisationen, zu gewinnen. Andererseits wuchsen 
so dem Gebiete der Armenpflege weite neue Gebiete der Wohlfahrtspflege hinzu. Krip- 
pen und Säuglingsheime, Kinderasple und Kinderhorte, Zugendschutz und Fürsorge- 
erziehung, Erholungsheime für Kinder wie für Erwachsene, Tuberkulose- und Trinker- 
  
  
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