Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Erster Band. (1)

  
66 Vällerrecht. III. Buch. 
  
Aberblick über die Entwicklung des Völkerrechts 
vom Wiener Kongreß 1814/15 bis zur Gegenwart) 
DHer Wiener Kongreß 1814/15. Die Bedeutung des Wiener Kongresses lag, 
rein äußerlich betrachtet, zunächst darin, daß er 
seit dem westfälischen Friedenskongreß die erste Versammlung von diplomatischen Ver- 
tretern war, die sämtliche christliche Staaten von Europa beschickt hatten, um gemein- 
same Angelegenheiten der völkerrechtlichen Gemeinschaft sowohl, wie auch Verhältnisse 
einzelner ihrer Mitglieder zu regeln. 
Sodann kommt in Betracht, daß der Wiener Kongreß eine mit der französischen 
Revolution beginnende Periode gewaltsamer Umwälzungen und zahlreicher, alle euro- 
päischen Staaten berührender Kriege abschloß und daß er einerseits bis zu einem gewissen 
Grade unter dem Einflusse der Ideen der französischen Revolution stand, andererseits 
aber die infolge dieser Umwälzungen und Kriege eingetretene Verschiebungen in den 
politischen und staatlichen Verhältnissen Europas so viel als möglich wieder rückgängig 
machen sollte. 
Außerdem hat der Kongreß noch verschiedene Beschlüsse allgemeiner Natur gefaßt, 
die Bedeutung für die Weiterentwicklung des Völkerrechts hatten. Zu diesen Verein- 
barungen gehört schon der Beschluß über die Rangordnung der Gesandten. Vor allem 
aber sind zu erwähnen der Beschluß, durch den der Sklavenhandel als verwerflich 
bezeichnet und dessen Unterdrückung in Alussicht gestellt wurde, und sodann der für 
das internationale Verkehrsleben so wichtige Beschluß, durch welchen die Schifffahrt 
auf den sog. internationalen Strömen und Flüssen, d. h. denjenigen, die vom Meere 
aus schiffbar sind und sei es der Länge oder Breite nach das Gebiet verschiedener 
Staaten durchfließen, frei erklärt wurde, so daß sie den Flaggen aller Nationen offen 
stehen soll?. 
  
Der Pariser Friedensvertrag Aeben dem Wiener Kongreß ist als besonders 
– vom 30.4. 5. wichtiges Ereignis auf dem Gebiete der Ent- 
wicklung des Völkerrechts im vorigen ZJahr- 
hundert der Pariser Friedensvertrag vom 30. März 1856 zu erwähnen, durch den 
der russisch-türkische Krieg von 1851/54, an welchem auf Seite der Türkei auch England, 
Frankreich und Sardinien beteiligt waren, beendigt wurde. Dieser Friedensvertrag ist 
hier namentlich deshalb zu erwähnen, weil in dessen Art. 7 die Kongreßmächte (Preußen, 
Osterreich, Frankreich, Großbritannien, Rußland, Sardinien, die Türkei) erklärten, daß 
die Türkei in Zukunft des öffentlichen europäischen Rechts und des europäischen 
Konzerts teilhaftig sein soll. 
1) Ullmann, a. a. O. S. 72 ff. — S. Brie, Die Fortschritte des Völkerrechts seit dem Wiener Kon- 
greß (1890). — Gareis, a. a. O. 4. 
) Vgl. v. Holtzendorff, Handbuch des Völkerrechts, 11I. Bd., s#60 ff. — Ullmann, a. a. O. 5# 105 
und 106. 
  
  
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