Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Erster Band. (1)

  
III. Buch. gInternationales Privatrecht. 95 
  
internationalen Privatrechts ebenso der Gegenstand seiner Lehren wie seine positiven 
Normen. Das ist der Sinn, in welchem heute das internationale Privatrecht als Wissen- 
schaftsdisziplin besteht. 
V. Es ist mit den letzten Bemerkungen bereits 
darauf hingewiesen, daß die heute erkannte und 
betätigte Erstreckung des internationalen Privat- 
rechts über alle Zweige der gesamten Rechtsordnung mehr bedeutet als die Durchfüh- 
rung eines bloßen Querschnittes durch die gesamten Einzeldisziplinen bin- 
durch. Die Auffassung, welche dieses letztere annimmt, wird zwar noch vereinzelt vertreten, 
kann aber gegenüber dem Inbegriff der modernen Entwickelung nicht mehr standhalten. 
Daßin jedem einzelnen Abschnitt des Rechtes, ja bei fast jedem einzelnen Rechteinstitut, sich 
Gelegenheit bietet und das Bedürfnis bestehen kann, die internationale Beziehung zu unter- 
suchen, oder wie man auch sagt, „den örtlichen Geltungsbereich der Rechtssätze zu unter- 
suchen“, hat dazu geführt, daß in jeder einzelnen Disziplin ein Abschnitt dieser Lehre ge- 
widmet zu werden pflegt, oder daß gar bei jedem einzelnen Rechtsinstitut die internatio- 
nal-privatrechtliche Frage erörtert wird. Dadurch kann aber die spstematische Behandlung 
des internationalen Privatrechts im ganzen wissenschaftlich nicht ersetzt werden. Dieses 
Ganze ist nicht nur mehr, sondern es ist auch etwas anderes als die Summe jener Teile. 
Denn nur bei systematischer Untersuchung der Gesamtheit aller Beziehungen des Inhaltes 
der verschiedenen Rechtsordnungen zueinander kann man zu überragender Erkenntnis der 
Probleme und zu ihrer methodisch sicheren Lösung gelangen. Nur auf jener breiten 
Grundlage erwächst die Rechtsvergleichung als Wissenschaft. Ohne diese ist das 
internationale Privatrecht ein Chaos von zufällig zusammengeworfenen Fallfragen. 
Nur die Rechtsvergleichung ergibt die theoretische, d. h. richtige Fragestellung für das 
internationale Privatrecht. Znsofern ist die Rechtsvergleichung (d. h. das ver- 
gleichende Studium der verschiedenen modernen Rechtsordnungen in allen ihren 
Teilen) Bestandteil des internationalen Privatrechts. Auch diese Erkennt- 
nis ist erst in den letzten Zahrzehnten gewonnen worden und zu praktischer Geltung 
gekommen. 
VI. Eines der wichtigsten aus der neuen Methodik entsprungenen Ergebnisse 
ist die Einsicht, daß die einzelnen Rechtssätze der verschiedenen Rechtsordnungen nur 
zu einem verhältnismäßig geringen Teil zueinander im Verhältnis jener Kommen- 
surabilität stehen, welche man früher in großer Unbefangenheit im allgemeinen als 
selbstverständlich voraussetzte. Wir wissen heute, daß man zwar die verschiedenen Groß- 
jährigkeitstermine der einzelnen Rechtsordnungen, Ehehindernisse und Ehescheidungs- 
gründe, Biehmängellisten beim Kauf, Formvorschriften und vieles andere dieser Art 
auf einen gemeinsamen Nenner bringen und dann mittels einer Kollisionsnorm ver- 
hältnismäßig glatt zur Entscheidung bringen kann. Dagegen erweisen sich z. B. die 
verschiedenen Systeme der Nichtigkeit und Anfechtung der Rechtsgeschäfte, und manche 
elementar scheinende Grundsätze des Rechtes der Schuldverhältnisse als inkommensurabel 
und darum als der elementaren internationalprivatrechtlichen Behandlung, wie wir 
Erstreckung über alle Zweige 
der Rechtsordnung. 
  
  
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