Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Erster Band. (1)

  
I. Buch. Auswärtige Politik. 33 
  
die Hände reichten, hatte Fürst Bismarck für die europäische Politik eine neue Basis 
geschaffen. Die vereinte Kraft der Ostmächte wirkte erkaltend auf die Revanche- 
stimmung des französischen Volkes und war eine Friedensbürgschaft ersten Nanges. 
Bismarck erwartete auch von der engeren Binbung Rußlands an die konservativen Ten- 
denzen der auswärtigen Politik Deutschlands und Österreichs einen mäßigenden Einfluß 
auf die damals in Rußland stärker anschwellende panflawistische Strömung. Es sollte, 
wie er sich ausdrückte, der stürmische russische Elefant zwischen den zahmen Elefanten 
Deutschland und ÖOsterreich gehen. 
Der Berliner Kongreß brachte 1878 eine Trübung des bis dahin ungestörten Einver- 
nehmens unter den Ostmächten. Rußland, das nach den starken Verlusten eines langen 
und unerwartet schwierigen Feldzugs es nicht auf die Besetzung von Konstantinope 
hatte ankommen lassen, mußte sich in Berlin einige nicht unwesentliche Modifikationen 
des Friedens von San Stefano gefallen lassen. Diese Abänderungen waren im wesent- 
lichen auf geheime Abmachungen zurückzuführen, die das St. Petersburger Kabinett 
vor dem Kriege gegen die Türkei mit ÖOsterreich und nach erfolgtem Waffenstillstand 
mit England abgeschlossen hatte. Aber die russische Presse, deren Einfluß auf die russische 
öffentliche Meinung im Laufe der letzten Zahrzehnte erheblich zugenommen hatte, schob 
die Verantwortung für die das russische VBolk wenig befriedigenden Ergebnisse des Ber- 
liner Kongresses auf den Vorsitzenden des Kongresses, der gleichzeitig sein hervorragend- 
ster Teilnehmer war, den Fürsten Bismarck. Der russische Reichskanzler, Fürst Gort- 
schakow, dessen persönliches BVerhältnis zum Fürsten Bismarck sich nach und nach immer 
mehr verschlechtert hatte, ließ nicht nur der russischen Presse die Zügel schießen, sondern 
erörterte selbst gegenüber einem französischen Journalisten den Gedanken eines russisch- 
französischen Bündnisses, das freilich damals nicht mehr als ein Gedanke war. Als auch 
Kaiser Alexander ll. der deutschfeindlichen Strömung nachzugeben schien, schloß Bismarck 
1879 den Bündnievertrag mit Österreich- Ungarn, der zur Basis des Dreibundes wurde. Nach 
Abschluß dieses Bündnisses sagte mir der Timeskorrespondent in Paris, Herr v. Blowitz, 
ein vielgewandter Mann: „Das ist wohl der beste diplomatische Coup, den Bismarck 
noch gemacht hat.“ Fürst Biemarck setzte aber gleichwohl seine gewohnte Energie an 
die Wiedergewinnung des alten Verhältnisses zu Rußland. Und tatsächlich gelang ihm 
nicht nur eine erhebliche Besserung der deutsch-russischen Beziehungen, sondern die 
Dreikaiserbegegnung zu Skierniewice führte 1884 zu einer neuen Annäherung der drei 
Kaiserreiche. Der europäische Friede war durch den Bestand des Dreibundes auf der 
einen, die Entente der Ostmächte auf der anderen Seite nahezu ideal gesichert. Aber 
dem idealen Zustande war von vornherein eine Grenze gesetzt an den einander vielfach 
widerstreitenden Zielen der österreichischen und der russischen Orientpolitik. Es war 
nur eine Frage der Zeit, wann dieser Gegensatz, der nicht abhing vom guten oder 
schlechten Willen der Staatsmänner, sondern von der Verschiedenheit sehr realer 
politischer Interessen beider Reiche, wieder zur Erscheinung kam. Es war die 
bulgarische Frage, die aufs neue die Beziehungen zwischen Rußland und Österreich 
erschütterte. Das Einvernehmen der drei Kaisermächte überlebte nicht den stürmischen 
Sommer 1886. Fürst Bismarck hat bekanntlich selbst erklärt, daß er gegenüber dieser 
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