Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Erster Band. (1)

  
1. Buch. Auswärtige Politik. 35 
  
zösischen Bündnis zu lösen und durch vertragsmäßige Bande an uns zu knüpfen, für 
absehbare Zeit verbaut. Wohl aber kann Oeutschand die deutschlandfeindliche Spitze 
des Zweibundes durch Sanierung der deutsch-russischen Beziehungen abstumpfen. Diese 
Aufgabe war erfüllbar und sie ist erfüllt worden, wesentlich erleichtert durch die 
zwischen unserem Kaiser und Kaiser Rikolaus bestehenden persönlichen Beziehungen. 
Die Hoffnungen der französischen TChauvinisten auf das russische Bündnis haben sich 
nicht erfüllt. Die russischen Staatsmänner haben Frankreich sogar gelegentlich zu 
verstehen gegeben, daß die russische Politik nicht gewillt sei, in den Dienst einer 
französischen Nevanchepolitik zu treten. Die hochgespannten Erwartungen, mit denen 
in Frankreich der Abschluß des Zweibundes begrüßt worden war, mußten allmählich 
herabgestimmt werden. Die französische Politik sah sich gezwungen, in der Richtung 
der die nationale französische Stimmung im letzten Ende beherrschenden Gefühle und 
Aspirationen einen Ersatz für die getäuschten Zweibundhoffnungen zu suchen. Sie 
fand diesen Ersatz in der französisch-englischen Entente, die zeitweise für uns eine be- 
drohlichere Rolle gespielt hat als der Zweibund. Der die Franzosen beherrschende 
Groll gegen die deutschen Herren von Elsaß-Lothringen suchte und fand einen Ver- 
bündeten in der mit dem Ausbau unserer Flotte und mit unserer überseeischen Ent- 
wicklung Schritt für Schritt anschwellenden Unruhe und Eifersucht weiter englischer 
Kreise. Dem Zweibund fehlt im Grunde ein beiden verbündeten Mächten gemein- 
samer und dauernder Interessengegensatz zum Deutschen Reich. Nußland findet mit 
seinen macht- und wirtschaftspolitischen Ansprüchen vielleicht keine europäische Macht 
so selten auf seinem Wege wie Oeutschland. Gewiß fehlt es nicht an Gegensätzen 
auch zwischen England und Frankreich. England hat in der weiteren Welt bis in die 
jüngste Zeit hinein seine folgenreichsten Fortschritte meist auf Kosten Frankreichs er- 
reicht, so im Sudan, so zuvor in Hinterindien. Aber es stand Frankreich, dem die über- 
seeische Politik keine Lebensfrage ist, frei, seine weltpolitischen Interessen denen Eng- 
lands nachzustellen und dadurch die französisch-englischen Gegensätze zu beschränken 
um den Preis eines französisch-englischen Einvernehmens. Frankreich hat den hohen 
Einsatz für die Freundschaft Englands gezahlt, nachdem es sich in seinen Zweibund- 
hoffnungen enttäuscht sah. 
Deutschland und Frankreich. Man könnte sagen, der Sroll gegen Deutschland 
ist die Seele der französischen Politik, die anderen 
internationalen Fragen sind mehr materieller Natur und gehen nur den Leib an. Es 
liegt in der Eigenart des französischen Volkes, daß es das seelische Bedürfnis dem 
materiellen voranstellt. 
Die Unversöhnlichkeit Frankreichs ist ein Faktor, den wir in unsere politischen Be- 
rechnungen einstellen müssen. Es scheint mir schwächlich, die Hoffnung zu nähren, Frank- 
reich wirklich und aufrichtig versöhnen zu können, solange wir nicht die Absicht haben, 
Elsaß-Lothringen wieder herauszugeben. Und diese Absicht ist in Deutschland nicht 
vorhanden. Gewiß gibt es eine Menge Einzelfragen, wo wir Hand in Hand mit Frank- 
reich gehen und namentlich zeitweise mit ihm zusammengehen können. Wir müssen 
  
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