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28 Seemacht und Kriegsflotte. IV. Buch.
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man des Eingreifens der Flotte zu bedürfen, und der für Deutschlands Politik verant-
wortliche Reichskanzler war dieser Auffassung nicht entgegengetreten.
Unter dem zweiten Chef der Admiralität, dem General v. Caprivi, begann sich eine
Anderung vorzubereiten. Oies zeigt sich in den Denkschriften zu den Etats für den Aus-
landedienst der Flotte wie für deren Bedeutung überhaupt. Trot aller Zweifel, die man
dem Hochseeschlachtschiff in seiner jetzigen Gestalt entgegenbringe, läge in ihm doch der
eigentliche Wert jeder Flotte. „Eine Marine, die ihren Schwerpunkt auf oder am Lande
suchte, verdiente ihren Namen nicht mehr. Immer mehr hören die Meere auf, die Na-
tionen zu trennen, und immer mehr scheint der Gang der Geschichte darauf hinzuweisen,
daß ein Staat sich nicht von der See zurückziehen darf, wenn er auch über die nächste
Zukunft binaus sich eine Stellung in der Welt zu erhalten trachtet.“ So beißt es in der
Denkschrift zum Etat von 1883, und es klingt wie eine Vorbereitung zum späteren Flotten-
gesetz, wenn General v. Caprivi 1887 schreibt: „Die Erkenntnis des schnell wachsenden
Wertes überseeischer Beziehungen, die Unmöglichkeit, den eigenen Einfluß noch länger
auf Europa beschränken zu können, das Bewußtsein von der Rückwirkung anderer Welt-
teile bis in die intimsten Fragen eigener Wirtschaftspolitik, haben — ganz abgesehen von
der Kolonialpolitik — fast alle europäischen Staaten im Laufe der letzten Jahre zu einer
Vermehrung ihrer Seemacht geführt“ und weiter: „Das Deutsche Reich steht demnach
vor der Frage, ob es durch personelle und finanzielle Rücksichten dazu genötigt ist, sich
in diese Lage (des Zurückbleibens in seiner maritimen Rüstung binter andern Flotten
II. Ranges) zu schicken, oder ob und bis zu welchem Grade ihm jene Rücksichten die
Vermehrung seiner eigenen maritimen Wehrkraft gestatten und rätlich erscheinen
lassen.“
Die Zeiten Hatten sich eben geändert und die Frage des Ausbaus der deutschen
Wehrmacht zu Lande und zu Wasser nach den verschiedensten Richtungen hin beeinflußt.
Als im Jahre 1884 die deutsche Kolonialpolitik einsetzte, hatte man in England die Zeit
der Kolonialmüdigkeit noch nicht völlig überwunden, die, im Zusammenhang mit der
Freihandelsbewegung, viele Gemüter beherrscht hatte. Mehr erstaunt als beunruhigt
schaute man den neuen deutschen Bestrebungen zu, und auch als die von Bismarck unter
Mitwirkung der in Kolonialdingen England abgeneigten französischen Republik im No-
vember 1884 nach Berlin berufene Afrikanische Konferenz internationale Festsetzungen
tras,, die tief eingriffen in bisher von England souverän auf der ganzen Welt gehandhabte
Rechte, wurde kein formeller Widerspruch erhoben. Aber bald regte sich die öffentliche
Meinung in England, eine eifrige Propaganda setzte ein, und es war zu übersehen, daß
jeddees weitere Hinausschieben deutscher Seeinteressen bald nur möglich sein würde, wenn
eine genügende maritime Wehrkraft es unterstützte.
Andrerseits war auch die kontinentale Machtstellung des deutschen Reiches doch
nicht mehr als so gesichert anzusehen, wie sie es 1875 gewesen war. Die nach dem russisch
türkischen Kriege im Sommer 1878 tagende Berliner Konferenz bedeutete einen Höhe-
punkt des deutschen Einflusses in der europäischen Politik. Sie hatte aber in ihren Folgen
das Verhältnis des Deutschen Reiches zu Rußland getrübt, der Revancheidee in Frank-
reich dadurch neue Hoffnungen erweckt, und so war trotz des im Fahre 1872 mit ÖOsterreich
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