Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Erster Band. (1)

  
l. Buch. I. Einführung. 61 
  
Partei- und Staatsinteresse. Elücklicherweise beweist die Eeschichte, daß eine 
Partei sich nicht auf die Dauer ungestraft dem 
nationalen Interesse entgegensetzen kann. Auch die kurze deutsche Parteigeschichte kennt 
solche Beispiele. Von der katastrophalen Niederlage, die Fürst Bismarck der an den Zdeen 
und Grundsätzen von 1848 klebenden Fortschrittspartei vor bald einem halben JZahrhundert 
beibrachte, hat sich der Freisinn trotz seines inzwischen vorgenommenen Stellungswechsels 
in nationalen Fragen bis heute nicht erholen können. Aber Epochen, die wie die von 1866 
bis 1871 die Seele des Volkes bis in ihre Tiefen erschüttern, die so unerbittlich und all- 
gemein vernehmlich das Urteil über den politischen Irrtum sprechen, sind so selten, wie 
sie groß sind. Der gewöhnliche Gang der politischen Entwicklung pflegt bei uns die Folgen 
verfehlter Parteipolitik nur langsam zutage zu fördern. Selbstkritik und Selbstbesinnung 
müssen an die Stelle der Erfahrung treten. Die Parteien anderer Staaten haben es in 
dieser Hinsicht leichter. Die schwere, wenngleich edle Aufgabe der Selbsterziehung, 
die unseren Parteien gestellt ist, wird in Staaten, in denen das parlamentarische System 
herrscht, den Parteien abgenommen. In solchen Ländern folgt dem parteipolitischen 
Febler der Mißerfolg und damit die empfindliche Belehrung Zug um Zug. Damit will 
ich nicht dem Parlamentarismus im westeuropäischen Sinn das Wort reden. Die Güte 
einer Verfassung hängt nicht lediglich davon ab, wie sie auf das Parteileben wirkt. Ver- 
fassungen sind nicht für die Parteien da, sondern für den Staat. Für die Eigenart gerade 
unseres deutschen Staatslebens wäre das parlamentarische System keine geeignete Ver- 
fassungsform. Wo sich der Parlamentarismus bewährt, und das ist auch nicht überall 
der Fall, ruht die Kraft des staatlichen Lebens in der Kraft und Geltung, in der politischen 
Weitherzigkeit und staatsmännischen Fertigkeit der Parteien. Da haben die Parteien mit 
ihrer eigenen Entwicklung und Gründung den Staat gebildet, wie in England, in gewissem 
Sinne auch im republikanischen Frankreich. In Deutschland sind die monarchischen Re- 
gierungen Träger und Schöpfer des Staatslebens. Die Parteien sind sekundäre Bildungen, 
die erst auf dem Boden des fertigen Staates wachsen konnten. Es fehlen uns für ein parla- 
mentarisches System die natürlichen, die geschichtlichen Boraussetzungen. 
Diese Erkenntnis braucht uns aber nicht zu verhindern, die Vorteile zu sehen, die 
dies System anderen Staaten bringt. Wie keine ganz vollkommene Staatsverfassung, 
gibt es eben auch keine ganz unvollkommene. Das namentlich in Frankreich oft versuchte 
Experiment, alle Vorzüge aller möglichen Verfassungen in einer einzigen zu vereinigen, 
ist noch immer mißlungen. Indem wir uns dessen bewußt bleiben, brauchen wir darum 
doch nicht die Augen vor manchen Vorzügen fremden Verfassungslebens zu verschließen. 
In parlamentarisch regierten Ländern werden die großen Parteien und Parteigruppen 
dadurch politisch erzogen, daß sie regieren müssen. Wenn eine Partei die Mehrheit er- 
langt hat, die leitenden Staatsmänner aus ihren Reihen stellt, erhält sie auch die Ge- 
legenheit, ihre politischen Meinungen in die Prazis des staatlichen Lebens umzusetzen. 
Geht sie nun doktrinär oder extrem vor, setzt sie das allgemeine nationale Wohl binter 
das Parteiinteresse und das Parteiprinzip zurück, begeht sie die Torheit, ihr Partei- 
programm unverkürzt und unverwässert durchführen zu wollen, so wird sie bei Neuwahlen 
bald von der Gegenpartei aus der Mehrheit und damit aus der Regierung verdrängt wer- 
  
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