I. Buch. II. Der nationale Gedanke und die Parteien. 77
durfte nicht lediglich für den Augenblick, er mußte im Hinblick auf die Vergangenheit und
mit Rücksicht auf die Zukunft gelöst werden. Die Notwendigkeit, eine Mehrheit für
nationale Fragen ohne das Zentrum zu bilden, bestand im Grunde seit dem Bruch des
Biemarckschen Kartells und war geschaffen durch die Konsequenzen, die das Zentrum
aus seiner Unentbehrlichkeit für die Durchführung nationaler Aufgaben gezogen hatte. Es
war also ein altes Problem, das 1907 zur Lösung stand, das durch die vorangegangenen
Abstimmungen wieder aktuell geworden, nicht aber erst durch sie gestellt worden
war: eine nationale Mehrheit ohne das Zentrum. Aicht eine Mehrheit wider das Zentrum,
nicht eine nationale Mehrheit, von der das Zentrum auzgeschlossen bleiben sollte, sondern
eine nationale Mehrheit, stark und in sich fest genug, nationalen Forderungen auch ohne
Zentrumszhilfe gerecht zu werden. Gelang das, so war für das Zentrum das verfüh--
rerische Bewußtsein seiner Unentbehrlichkeit zerstört, war der Gefahr einer Mehrheits-
bildung von Zentrum und Sozialdemokratie die Spitze abgebrochen. Als die Volks-
partei bei den Abstimmungen über die Kolonialgesetze den Konservativen und National-
liberalen zur Seite trat, sah ich die Möglichkeit einer neuen nationalen Mehrheitsbildung
vor Augen. Es hätte meiner Uberzeugung von der Ausgleichbarkeit der konservatio-
liberalen Gegensätze, von dem Segen und dem erzieherischen Wert eines konservativ-
liberalen Zusammengehens nicht bedurft, um mich diese Möglichkeit ergreifen zu
lassen. Ich erfüllte meine Pflicht, als ich es tat. Nicht gegen das Zentrum als solches,
sondern gegen das im Bunde mit der Sozialdemokratie in Opposition befindliche
Zentrum wurde die Blockmehrheit gebildet. Als eine rein nationale Angelegenheit
wurden die Blockwahlen von der Nation aufgefaßt. Die Stimmung in der Nation,
als der Wurf gelungen war, war nicht parteipolitische Triumphstimmung, sondern
patriotische Befriedigung. Aus den innerpolitischen Erfahrungen von fast zwei Jahr-
zehnten war der Block gereift. Eine Verheißung für die kommenden Jahrzehnte lag
in der Gewinnung auch der letzten der bürgerlichen Parteien für die nationalen Auf-
gaben des Reichs.
Der Gedanke, der dem sog. Block zugrunde lag, war ein ähnlicher wie der, der dem
Kartell zugrunde gelegen hatte. Ich möchte sagen: der Block war die den veränderten
Zeitverhältnissen angepaßte modernere Verwirklichung eines alten Gedankens. An eine
Wiederholung des Kartells aus Konservativen und Nationalliberalen war schon seit
langer Zeit nicht mehr zu denken. Die alten Kartellparteien waren zwischen den Mühl-
steinen Zentrum und Sozialdemokratie so sehr zerrieben worden, daß keine Hoffnung
mehr bestand, die Kartellmehrheit in absehbarer Zeit wieder zu erneuern. Um im Not-
falle zur Bildung einer nationalen Mehrheit die Hilfe des Zentrums entbehren zu können,
mußte der Freisinn binzugezogen werden. Als die Freisinnigen im Zahre 1906 die Hand
zu nationaler Mitarbeit boten, mußte die Regierung diese Hand ergreifen — und sie
festhalten. Es handelte sich nicht darum, eine Partei für die Regierung zu gewinnen,
sondern um ein weiteres Stück Boden für den nationalen Gedanken im Volke. Seit der
Gründung des Reiches schwenkte der alte Freisinn zum ersten Male in die nationale Front
ein. Die Art, wie er es tat, ließ kaum einen Zweifel, daß die Wendung nicht für den
Moment, sondern für die Dauer gedacht war. Was mir Eugen Nichter, nicht lange bevor
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