Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Zweiter Band. (2)

  
VI. Buch. Bankwesen. 301 
  
bank gewiß von Bedeutung, aber es gibt außerdem eine große Reihe anderer Faktoren, die 
auf den Diskont der Bank und damit auch auf den des ganzen Landes einwirken. Das 
gesamte Wirtschaftsleben der Nation bestimmt schließlich den Geldmarkt und die Zins- 
sätze, und es heißt doch die Bedeutung dieser allgemeinen wirtschaftlichen Zustände 
verkennen, wenn man glaubt, daß NReichsbank und Großbanken lediglich durch andere 
Organisation des Sostems in der Lage sein könnten, den Zinsfuß innerhalb eines 
Landes dauernd niedrig zu halten. Tatsache ist, daß die älteren und reicheren Kultur- 
staateen im allgemeinen den niedrigsten Durchschnittsdiskont haben, was doch beweist, daß 
der Volkswohlstand in unserem gesamten Geldsystem eine wichtige Rolle spielen muß. 
Freilich, es entscheidet hierbei nicht schon und an sich die Menge des vorhandenen natio- 
nalen Kapitals; wäre das der Fall, so müßte in Deutschland, wo sich das Nationalver- 
mögen den in letzten Dezennien so außerordentlich stark gesteigert hat, der Zinsfuß ein 
niedriger sein; bekanntlich ist das gerade Gegenteil der Fall. Der Durchschnittssatz des 
Bankdiskonts betrug in den Jahren 1897—1908 in ODeutschland 4,47% ; in Frankreich 
2,92 0 in England 3,58% ; das hängt mit dem Bau und Leben des betreffenden 
nationalen Wirtschaftskörpers eng zusammen. Frankreich ist ein Rentnerland, 
ein Land, in dem nicht annähernd so viel gearbeitet und geschaffen wird, und in dem 
nicht entfernt in dem Maße neue Werte erzeugt werden, wie etwa in Deutschland. 
Die Folge davon ist, daß in Deutschland viel mehr kurzfristige Leihkapitalien be- 
gehrt werden als in Frankreich, was zu einem erheblichen Teil, vielleicht ent- 
scheidend mit der immer noch starken Volksvermehrung zusammenhängt. Bei uns 
kommt binzu, daß das stark arbeitende und auch entsprechend verdienende Volk zwar mehr 
produziert, aber auch erheblich mehr konsumiert, als ein sparsames Volk. Deutschland 
importiert einen erheblichen Teil seiner Nahrung- und Genußmittel aus dem Aus- 
land, und da es diesen IZmport mit Geld bezahlen muß, so wirkt dieser Zustand 
unmittelbar auf den Geldmarkt ein. Deutschland verzehrt oder verbraucht annähernd 
die Hälfte sämtlicher eingeführten Waren und nur die knappe andere Hälfte det Imports 
sind Kohmaterialien zur Weiterverwertung. Frankreich dagegen führt nur etwa ein 
Sechstel an Lebensmitteln und Bieh ein und annähernd ebensoviel an Gebrauchsgegen- 
ständen; dagegen verwendet es zwei Drittel dieser Einfuhr für die Weiterverarbeitung, 
läßt es also produktiven Zwecken dienen. — Die Folge davon ist, daß bei uns zur Be- 
zahlung der großen Summen für Ernährung und Gebrauch eine ganz gewaltige, 
kommerzielle und industrielle Tätigkeit eintreten muß. Trotzdem ist in Deutschland, freilich 
auch in Frankreich, die Handelsbilanz, also Verhältnis von Einfuhr zur Ausfuhr, un- 
günstig, wir führen eben immer noch weit mehr ein als aus. Deutschland steht hierbei 
bekanntlich in der Mitte zwischen Frankreich und England; in England ist die Einfuhr 
um 26,5% größer als die Ausfuhr; in Frankreich um 13,4% , in Deutschland um 17,70%. 
Wäre die Handelsbilanz allein entscheidend, so müßten alle drei Länder, und England 
am meisten, jährlich Gold zur Bezahlung des Minus exportieren. Indessen das Minus 
der Handelsbilanz wird in anderer Weise ausgeglichen; alle drei Länder sind Gläubiger- 
länder und sie kompensieren einen großen Teil ihrer Schuld aus Warenimporten mit 
den Zinsen, die Schuldnerstaaten aus geliehenen Geldern (Anleihen) an sie zu entrichten 
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