XII. Buch. Das öffentliche Leben. 5
aber auch, wo sie der Ausdruck des öffentlichen Lebens sind, kommen sie uns zu wenig
zum Bewußtsein, als daß wir dieses an ihnen ablesen und messen könnten. Und so fehlt
uns zur Bestimmung und Beschreibung des öffentlichen Lebens im deutschen Staat
gerade die Hauptsache, der Nomos als Gesamthintergrund und untergrund und die
Möglichkeit ihn zu fassen und in Worte zu kleiden. Deshalb sind wir auf bloße Symptome,
auf Merkzeichen und Ausdrucksformen angewiesen; es fragt sich nur, wo wir sie zu suchen
haben und ob wir sie finden.
Bielleicht führt uns aber gerade das,
was uns fehlt, hinüber zu dem, was
wir suchen. Unsere Sitte ist auch deshalb keine einheitliche, weil unser Volk ein vielfach
zerspaltenes und geteiltes, von allerlei Gegensätzen durchzogenes ist. Die Teilung des
deutschen Volkes in verschiedene Stämme, der Trennungesstrich der Mainlinie zwischen
Nord und Süd hat einst als staatlicher Partikularismus die Politik und das ganze öffent-
liche Leben unheilvoll genug beeinflußt. Allein heute ist das ein in der Hauptsache über-
wundener Standpunkt: der Partikularis mus ist keine Nacht mehr unter uns,
höchstens an den Rändern des Reichs ist er noch stärker ausgeprägt und hat hier einen
mnationalistischen“ und eben deshalb einen bösartigen Nebengeschmack. Da und dort
zittern noch alte NReminiszenzen pietätvoll nach oder werden alte Scheltworte gebraucht;
aber es ist eine das öffentliche Leben kaum mehr beeinflussende Sentimentalität, und der
Zorn, der sich so lautscheltend äußert, klingt mehr witzblattartig als ernsthaft. Uns als
Oeutsche und als Schwaben oder als Bapern zugleich zu fühlen, das haben wir in den
42 Zahren, seit das Reich steht, gelernt; und das große Problem, wie sich speziell der
Führerstaat Preußen zu Deutschland verhalte, beschäftigt mehr den feinsinnigen und in
die Tiefe bohrenden Historiker, als den praktischen Politiker. Auf der anderen Seite
wissen wir alle, wie der Partikularismus, der für unsere politische Entwicklung ein Pro-
blem und eine Klippe gewesen ist, kulturell unser deutsches Leben bereichert hat und
täglich noch reicher macht. Berlin ist nicht wie Paris die geistige Hauptstadt des Deutschen
Reichs, die die andern verschlingt; und diese Mehrheit von kulturellen Mittelpunkten
in den deutschen Großstädten und Residenzen verhindert Eintönigkeit und geistiges
Uniformtragen und erhält den Wetteifer der verschiedenen Stämme und Staaten in
erfreulicher gegenseitiger Spannung.
Der Partikularismus keine Macht mehr.
Größer und gefährlicher als die staatlichen
sind heute die religiösen Gegensätze. Im
protestantischen Teil unseres Volkes war Jahrhundertelang die Lutherbibel der gemein-
same Kodez einer für alle, Gebildete und Ungebildete, gleich gültigen Lebens-
anschauung, unsere Sittlichkeit ruhte auf dieser gemeinsamen religiösen Grund-
lage, auf der inhaltlich ja ebenso auch der katholische Teil stand. Und das machte sich
dann im öffentlichen Leben als Verständigungsmittel hin und her geltend. Aun ist unser
Volk gewiß auch heute noch religiöser, als es dem oberflächlichen Blick oft scheinen möchte.
Allein die Einheit und Einheitlichkeit im Religiösen ist doch weg, wir sind zerrissener als
Oie religiösen Gegensätze.
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