464 Völkerrechtliche Lehre
unter den Staaten, oder unter den Stimmführern der öffentlichen
Meinung. Vielmehr ist ja offenkundig, dass die Verschiedenheit
der Ansichten über das, was gefordert und gewährt werden
könne, unter den Regierungen zu grosser Erbitterung, in dem
allgemeinen Bewusstsein zu entschiedener Verwirrung geführt
hat. Abscheuliche Verbrechen haben die Gereiztheit noch ge-
steigert, aber auch die Nolhwendigkeit einer befriedigenden Lö-
sung der Frage näher gerückt. Die Pflicht der Prüfung und,
wenn immer möglich, der Bereinigung ist eine doppelte geworden.
Ehe aber in die Sache selbst eingegangen wird, seien einige
Worle zur genauern Feststellung des Gegenstandes der
Untersuchung gestaltet.
Die zunächst vorliegende Frage ist: welche Forderungen
ein Staat an einen befreundeten Staat. stellen könne hinsichtlich
seiner Sicherstellung gegen feindselige Handlungen politischer
Flüchtlinge, die sich zur Zeit im Gebiete der um Sicherung an-
gegangenen Macht befinden ?
Hier leuchtet denn vor Allem ein, dass eine wirklich ab-
schliessende Beantwortung nur auf dem Boden des Völker-
rechtes gewonnen werden mag. Nur wo nachgewiesen wer-
den kann, dass eine bestimmte Handlungsweise nach allgemein
anerkannten Grundsätzen strenge Rechispflicht ist, kann eine
unabweisbare Forderung gestellt werden. Beweisführungen, welche
auf die Billigkeit (comitas nationum), auf Politik, oder selbst auf
Staatsmoral gestellt sind, lassen weit leichter eine Widerlegung
oder wenigstens Ausweichung zu, und haben jeden Falles keine
formell zwingende Kraft. Diess hat sich in concreten Fällen
schon hinreichend gezeigt.
Es ist für unbillig erklärt worden, dass ein einzelner
Staat durch die unbeschränkte Freiheit des Aufenthaltes und des
Gebahrens, welche er gefährlichen Umwälzungsmännern gewähre,
viele andere Staaten in beständiger Gefahr erhalte und sie zu
kostspieligen Sicherungsmaassregeln nöthige. Hierauf hat aber
die Antwort nicht gefehlt: es sei in dieser Anmuthung eine dop-
pelte eigene Unbilligkeit enthalten. Einmal, indem man der bean-
spruchten Regierung zumuthe, Schritte zu ihun, welche dem Geiste
ihres Volkes zuwider, und deren blosser Versuch schon für’ ihren