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geschichtlicher Rückschau über einzelne und alle.
Das Gleichartige und Beharrende in den Bedürf-
nissen der Völker erzeugt eine gewisse Verwandt-
schaft ihrer staatlichen Einrichtungen. Es lassen
sich Formen von typischer Bedeutung erkennen
und in den Veränderungen dieser Formen typische
Regelmäßigkeiten, so daß man allerdings unter
Anwendung einer gewissen Vorsicht zugeben kann,
daß das staatliche und gesellschaftliche Leben selbst
wieder einer gesetzmäßig verlaufenden „Entwick-
lung“ unterliege. Dieser Begriff ist genommen
von Erscheinungen im Leben von Organismen
und läßt sich auf die Gesellschaft nur da anwenden,
wo sich etwas ihnen Gleichartiges erkennen läßt.
Die Gesellschaft, ganz besonders die als geordnet
betrachtete, stellt sich als eine Lebenseinheit dar;
es besteht Wechselwirkung zwischen einzelnen und
Gesamtheit; Verrichtungen sind in bestimmter
Ordnung an dienende Organe verteilt. Es exi-
stiert ein beständiger Erneuerungsprozeß der Teile
bei gleichbleibender Form des Ganzen und dann
wieder ein Wachstum des Ganzen ohne Ver-
änderungen der Elemente, ferner die Fähigkeit,
Störungen von innen heraus auszugleichen. Wie
beim einzelnen, zeigen sich bei der Gesamtheit
geistige Kräfte, bei letzterer allerdings durch ganze
Gruppen und kleine Gesamtheiten dargestellt. Die
Vergleichung von Gesellschaft und Organismus
kann aber leicht zu weit gehen, und dies würde
geschehen, wenn die menschliche Persönlichkeit in
ihrer Eigenschaft, abhängiges Glied im Organis-
mus zu sein, aufgehen würde und man so zu dem
Satze gelangte, daß, wie der einzelne moralischen,
so die Gesellschaft Naturgesetzen unterliege.
Insbesondere nannte man Entwicklungs-
gesetze jene Gesetze, welche die Geschicke der Ge-
sellschaft im weitesten Sinne, also der Menschheit,
ersichtlich machen sollten. Die Wissenschaft von
ihnen und von den Grundideen, von welchen be-
deutende Individuen und ganze Perioden und
Völker geleitet worden sind, gilt bald als Aufgabe
der Geschichtsphilosophie bald als Kulturgeschichte
bald als Soziologie. Unter dem Einfluß natur-
wissenschaftlichen Ubereifers, vielleicht auch nicht
genügend vorsichtiger Rechtsvergleichung, behan-
delte man liebevoll die Hypothese, der Mensch
habe sich aus tierischer Roheit erhoben. Eine
Reihe von Gelehrten (Bachofen, Morgan, Post,
Lippert) verwarf die Annahme, die patriarchalische
Familie sei der Ausgangspunkt gewesen, und be-
hauptete die ursprüngliche Abwesenheit der Ehe,
die Bestimmung der Verwandtschaft durch die
Mutter (uterine Gentilverfassung, Mutterrecht),
das ursprüngliche Recht des Kindermordes, der
Preisgebung der Kranken und Alten. Die christ-
liche Anschauung, durch welche solche Verirrungen
der „Naturvölker“ als nachträglich eingetretener
Verfall erklärt wurden, fand ihre Bestätigung
durch die exakte Forschung, welche nachwies, daß
jene angeblichen Urzustände keineswegs allgemein
nachweisbar sind.
Gesellschaft usw.
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Wie für die Urzeit, fehlt es auch für die histo-
rische Zeit nicht an Vorschlägen von Entwicklungs-
gesetzen, an geschichtsphilosophischen Bauten,
an Verallgemeinerungen des einen oder andern
meistens immerhin eine gewisse Wahrheit ent-
haltenden Grundgedankens. Mit dem von den
alten Chronisten als Faden der geschichtlichen
Betrachtung benutzten Danielschen Bilde von den
vier Weltmonarchien brach die humanistische Hi-
storiographie. Machiavelli (s. d. Art.), Bodin
(s. d. Art.) u. a. suchten die Geschichte nur aus
sich zu erklären, ersterer mit seinem Kreislauf der
Staatsformen, letzterer von ursprünglicher Roheit
ausgehend. Von da ab mehrten sich die Dar-
stellungen der Entwicklung der menschlichen Ge-
sellschaft wie der einzelnen Völker, nicht ohne mit-
unter der Gefahr pantheistischer Anschauungen zu
unterliegen. Im 19. Jahrh. schrieb Hegel in Ver-
tretung des antiken Staatsgedankens seine Ge-
schichtsphilosophie, indes Krause die Gesellschaft
mehr berücksichtigte. Ganz besonderes Augenmerk
auf diese richtete L. v. Stein. Er teilte ab: Ge-
schlechterordnung, ständische oder Berufsordnung,
staatsbürgerliche Ordnung, deren wirkende Kraft
die kapitalbildende Persönlichkeit sei. In Roschers
lange Zeit maßgebender Volkswirtschaftslehre hie-
ßen die Typen: mittelalterliches, blühendes, sinken-
des Volk (s. darüber Bruder in der Monatsschrift
für christl. Sozialreform 111879.). Nach Roscher
war für das jugendliche Deutschland die kanoni-
stische Wirtschaftsverfassung ebenso berechtigt wie
für die Blütezeit die volle wirtschaftliche Freiheit.
Es war dies immerhin noch ein Fortschritt gegen-
überdem dievorsmithschen Wirtschaftsanschauungen
überhaupt bemitleidenden Manchestertum.
Nach christlicher Anschauung ist das Gesetz des
Fortschrittes ein durchaus freies, frei seitens der
einzelnen, frei seitens der Gesellschaft; sie bemißt
den Fortschritt nach der Verwirklichung der christ-
lichen Grundsätze. Nur durch diese hält sie das
Ziel, die steigende Wertschätzung der menschlichen
Persönlichkeit, auf die Dauer für erreichbar. Auf
die Verwirklichung der Sittlichkeit als Maß der
Kultur wird nicht etwa bloß von katholischer Seite
der Nachdruck gelegt. Nach Rümelin (Reden
[18811 142) besteht das Gesetz des Fortschrittes
darin, daß das Gute aus dem flüssigen und un-
sichern Element freier Sittlichkeit von einzelnen
sich zu den festeren Formen rechtlicher Ordnung
und herrschender Sitte verdichte. Der von den
Materialisten angewendete Maßstab steigender
Beherrschung der Natur ist für die edle geistige
Beschaffenheit des Menschen ein zu roher und
äußerlicher. Ob die Einführung oder Wieder-
herstellung einer den christlichen Grundsätzen völlig
entsprechenden Gesellschaftsordnung irgendwo in
der Welt in absehbarer Zeit zu erwarten steht, ist
an dieser Stelle nicht zu erwägen. Unverrückt und
unverdunkelt aber muß zu allen Zeiten ein solches
Ideal der praktischen sozialen Arbeit aller christ-
lichen Gesellschaftsglieder vorschweben; denn aus